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DFG-Antrag 2003-2006

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Die im Text zitierte Literatur finden Sie im Literaturverzeichnis

Forschungsprogramm 2003-2006
Problemstellung, Forschungsziele und Struktur des Forschungsverbundes

Auf den ersten Blick leistet der Staat Enormes: er regelt den Arbeitsmarkt, steuert die Wirtschaft, bekämpft die Kriminalität, sorgt für Bildung, regelt den Straßenverkehr, gibt der Demokratie einen Rahmen, besitzt Unternehmen, führt Kriege, schafft Rechtssicherheit, unterstützt die soziale Wohlfahrt, erhebt Steuern und verteilt bis zu 50 Prozent des Bruttosozialproduktes, verpflichtet zum Militärdienst, unterhält das Gesundheitswesen, vertritt nationale Interessen und regelt weite Bereiche des täglichen Lebens bis ins Detail. Vor dem Hintergrund dieser Leistungsstärke wird die Blütezeit des demokratischen Wohlfahrtsstaates in pointierter Übertreibung auch gerne als das "goldene Zeitalter" der Neuzeit gesehen (Jürgen Habermas). Auf den zweiten Blick werden allerdings die Ambivalenzen deutlicher: Der moderne Staat ist gleichzeitig die primäre Gefahr für und der zentrale Garant der allgemeinen Menschenrechte; er ist zugleich die primäre Bedrohung und der zentrale Garant für die territoriale Integrität einer Nationalgesellschaft, und er ist zugleich Förderer und Hindernis des wirtschaftlichen Wachstums. Aus dieser Perspektive gilt das Diktum von Wolfgang Reinhard (2002b:49): "Wer weiß, wie der Staat funktioniert, hört auf, an ihn zu glauben". In jedem Falle ist festzuhalten: Die sozialen Grundwerte Frieden, Rechtssicherheit, politische Selbstbestimmung und soziale Wohlfahrt werden bis heute allesamt in symbiotischer Verbindung mit dem modernen Staat gedacht. Keine andere politische Institution prägt die Lebenschancen der Menschen so nachhaltig wie er.

Das Ende des demokratischen Rechts- und Interventionsstaates?
Insofern sind die Stimmen, die das Ende des demokratischen Rechts- und Interventionsstaates (DRIS) westlicher Prägung ausrufen, gewiß nicht nur von akademischem Interesse. Managementexperten und manche Ökonomen sehen durch die Globalisierung der Wirtschaft den Wohlfahrtsstaat und sogar den Staat als politische Organisationsform zunehmend unter Druck (s. Drucker 1994; Siebert 1999; Sinn 1998, 2000; Thurow 1992; bzgl. der Handlungsspielräume des europäischen Steuerstaats Genser 1999a, b). Der Managementexperte Ohmae (1995) sieht bestenfalls noch für einen kleinräumigen "Regionalstaat" mit ökonomischen Minimalfunktionen eine Zukunft. Juristen betonen, dass internationale Gerichte wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) oder der Dispute Settlement Body der Welthandelsorganisation staatliche Souveränität aushöhlen (z.B. Bogdandy 2001; Denninger 2000; Joerges 1996; Franck 1992; Jackson 2000) und sich Konstitutionalisierungsprozesse oberhalb des Nationalstaates beobachten lassen (z. B. Frowein 2000; Petersmann 1995; Pernice 2000a, b; Weiler 1999a, b). Soziologen weisen darauf hin, dass die Individualisierung und die Europäisierung der Gesellschaften den sozialen Kitt des Nationalstaates aufweichen und vor allem subnationale Identitäten an Bedeutung gewinnen könnten (Gerhards 1993, 1999; Honneth 1995; Heitmeyer 1999; Münch 2000). Politikwissenschaftler sehen in den neu entstandenen Mehrebenensystemen - dem der Europäischen Union, aber auch dem der Welthandelsorganisation oder des Internationalen Währungsfonds - eine Herausforderung der nationalstaatlich organisierten Demokratie (Benz/Eberlein 1999; Brock 1999, 2000; Esser 1998, 1999; Guéhenno 1994; Scharpf 1993, 1999; Zürn 1992, 1998), oder aber sie sehen die Herausforderung schon in der Globalisierung per se bzw. für die europäische Teilglobalisierung in der Osterweiterung der EG und einer dort anstehenden "Erweiterungskrise" (Vobruba 2000, 2001).

Zukunftschancen des demokratischen Rechts- und Interventionsstaates
Zugleich aber gibt es in der Wirtschaftswissenschaft, der Rechtswissenschaft, der Soziologie und der Politikwissenschaft Stimmen, für die der DRIS keinesfalls ein Auslaufmodell ist. Politikwissenschaftler unterstreichen, dass die Demokratie als Staatsform heute mehr denn je verbreitet ist und allgemein als Orientierung dient (Huntington 1991; Esty u.a. 1998). Gegenüber der These vom wirtschaftspolitischen Bedeutungsverlust wird angeführt, dass der Wohlfahrtsstaat zwar unter Druck steht, seine sozialen Sicherungssysteme jedoch weiter ausgebaut hat (Garrett 1998, 1997; Pierson 2001, 2002; Rieger 1997; Rieger/Leibfried 2003; Rodrik 1996), die zudem zur Bewältigung der Globalisierung selbst auch erforderlich seien (Rodrik 1996; Vobruba 2001). Soziologen verweisen darauf, dass mit der Individualisierung der soziale Kitt aus der ersten Moderne zwar ein anderer ist, aber auch in der zweiten Moderne nicht schwächer geworden sei (Beck 1998; Beck/Sopp 1997). Darüber hinaus bindet die juristische Mehrheitsmeinung das Recht nach wie vor an das legitime Gewaltmonopol des Staates (Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts s. Mayer 2000 und z.B. einführend Horn 2001). Manche Politikwissenschaftler behaupten zudem, das staatliche Gewaltmonopol habe sich letztlich erst heute vollständig durchgesetzt (Thomson/Krasner 1989; Krasner 1999a, b) und Mehrebenensysteme wie die EU oder die WTO beschränkten den Nationalstaat nicht, sondern brächten eine neue Staatsräson zum Ausdruck (Moravcsik 1994; Rieger 1995; Wolf 2000).

Was ist los mit dem Staat? Die neueren Studien zur Entwicklung des DRIS ergeben ein in der Tat uneinheitliches Bild. Auch die sich abzeichnende Mehrheitsposition, wonach Staatlichkeit in der OECD seit dem Ende der 1970er Jahre einem nachhaltigen Wandel unterliegt, ohne selbst obsolet geworden zu sein, bleibt noch unscharf und hat sich nicht aufgrund systematischer empirischer Forschung mit anerkannten konzeptionellen Grundlagen herausgebildet. Daher fehlen Kenntnisse darüber:

  • wie der gegenwärtige Wandel von Staatlichkeit genau aussieht,
  • welche Varianzen dieser Wandel aufweist und
  • welche Ursachen und Folgen er hat.

Diese Defizite in der Erforschung der Entwicklung von Staatlichkeit übertragen sich umstandslos in alle Bereiche sozial- und politikwissenschaftlicher Forschung, in welcher der Fortbestand des methodologischen Nationalismus - also die Setzung des Nationalstaates als zentrale politische und gesellschaftliche Einheit - eine weitgehend unhinterfragte analytische Prämisse zu sein scheint (Beck 2001; Zürn 2002a). Ein angemessenes Verständnis über den Wandel der Staatlichkeit und die Entwicklung von theoretischen Konzepten, die den realweltlichen Entwicklungen gerecht werden und mithin Bausteine neuer sozialwissenschaftlicher Theoriebildung sein können, ist somit von zentraler Bedeutung für die Sozial- und Politikwissenschaften (Mayntz 2002).

Die Konzeptionierung des Sfbs
Die Irrungen und Wirrungen der gegenwärtigen Analyse grundlegender Wandlungsprozesse lassen sich, so die Kritik von Caporaso (2000:4), auf drei folgenschwere konzeptionelle Vorentscheidungen zurückführen: Überabstraktion, Überaggregierung und Dichotomisierung. Wir versuchen mit unserer Konzeptionierung des Sfbs

  1. eine Überabstraktion zu umgehen, indem wir unser Konzept von Staatlichkeit an eine historisch reale, wenn auch idealtypisch stilisierte Konstellation anbinden;
  2. eine Überaggregierung beim Begriff der Staatlichkeit zu vermeiden, indem wir ihn in mehrere Dimensionen zerlegen, die wir getrennt untersuchen wollen; und
  3. eine nur dichotomische Beschreibung des Wandels in einen etwas "stärkeren" oder "schwächeren" Nationalstaat zu meiden, um statt dessen vielfältige Formen des Wandels von Staatlichkeit und ihre Schwellenwerte zu erfassen.

Die vier zentralen Dimensionen moderner Staatlichkeit
Der DRIS stellt sich uns als historisch konkrete Institutionalisierung einer idealtypisch gedachten Form der Staatlichkeit dar, in der die vier zentralen Dimensionen moderner Staatlichkeit zusammengefunden haben (vgl. u.a. Rokkan 1975):

  1. Die Monopolisierung der Gewaltmittel sowie der Steuererhebung auf einem abgeschlossenen Territorium führte zum modernen Territorialstaat.
  2. Die Anerkennung, dass der Staat nach innen an sein Recht gebunden ist und nach außen nicht in das Recht anderer Staaten eingreifen darf, ermöglichte den souveränen Rechtsstaat.
  3. Die Herausbildung einer gemeinsamen nationalen Identität - die Menschen auf dem Territorium des Staates betrachten sich als eine Gemeinschaft und beanspruchen politische Selbstbestimmung - führte zum demokratischen Nationalstaat.
  4. Die Anerkennung des Ziels, den gesellschaftlichen Wohlstand möglichst rasch zu mehren und gerecht zu verteilen, führte schließlich zum Aufbau eines sozialen Interventionsstaates.

Das entscheidende Charakteristikum besteht nun darin, dass sich zumindest in der OECD-Welt der 1960er und 1970er Jahre diese vier institutionellen Merkmale moderner Staatlichkeit in einer politischen Organisationsform, eben dem DRIS, vereinigt und dabei wechselseitig gestützt haben. Insofern zeichnet sich der DRIS durch eine besondere Akzentuierung der "Territorialität" bzw. des "Raumes" als Ordnungsprinzip aus. Die Rolle der Territorialität als Ordnungsprinzip hat sich im Zuge der Herausbildung des DRIS intensiviert, so dass sie heute in der Geschichtswissenschaft als Konzept für eine historische Phaseneinteilung der Neuzeit diskutiert wird (Maier 2000). Der voll ausgebildete DRIS besaß jedenfalls eine scharfe räumliche Trennlinie zwischen Innen und Außen, die weitgehend durch die Grenzen des nationalen Raumes bestimmt war. Und dieser Typus war durch eine einigermaßen klar bestimmte organisatorische Trennlinie zwischen Öffentlich und Privat gekennzeichnet. Zusammengenommen handelte es sich um eine "nationale Konstellation" (Habermas 1998). Gleichzeitig stützten sich die verschiedenen Dimensionen der Staatlichkeit wechselseitig (vgl. z.B. Senghaas 1994), weshalb wir auch von einer synergetischen Konstellation sprechen.

Wie rekonfiguriert sich Staatlichkeit?
Diese synergetische Konstellation definiert den Rahmen des DRIS, gleichsam den "Korridor" moderner Staatlichkeit. Innerhalb dieses Korridors weisen die konkreten institutionellen Ausprägungen des DRIS erhebliche Differenzen auf. Diese Varianzen sind innerhalb des DRIS in jeder der vier angesprochenen Dimensionen von Staatlichkeit in einer Vielzahl unterschiedlicher Typologien von OECD-Staaten erfasst worden. Wandel von Staatlichkeit findet unserer Konzeptualisierung gemäß dann statt, wenn sich entweder der allgemeine Korridor von Aufgaben, Kompetenzen, Ressouren und Formen der Aufgabenwahrnehmung des DRIS grundlegend verändert oder aber zumindest - innerhalb des Korridors - Typen von Staatlichkeit transformiert werden bzw. die Spannbreite des Korridors (die Varianz der Regime) zurückgeht.

Eine adäquate Erforschung von Staatlichkeit im Wandel sollte vor diesem Hintergrund alle Dimensionen in gleichmäßiger Weise in den Blick nehmen. Für jede der vier genannten institutionellen Dimensionen des DRIS ist demnach zunächst zu fragen: Lassen sich räumliche oder organisatorische Verschiebungen bzw. Verlagerungen beobachten?

Eine Veränderung in einer Dimension muß in einer synergetischen Konstellation allerdings nicht zwingend auf einen Wandel der Staatlichkeit insgesamt hindeuten. Deshalb ist Staatlichkeit im Wandel kaum durch ein einzelnes Projekt adäquat zu erforschen. Dafür ist vielmehr ein größerer Forschungszusammenhang erforderlich, in dem verschiedene Forschungsprojekte arbeitsteilig und diskursiv miteinander verzahnt werden, so dass im zweiten Schritt nach Veränderungen in der DRIS-Konstellation gefragt werden kann.

Im Sfb wird in der Tat gemeinsam als Arbeitsthese davon ausgegangen, dass sich die angesprochenen Dimensionen von Staatlichkeit nicht mehr ausschließlich in der konkreten Organisationsform des DRIS bündeln. Vielmehr lautet die Frage: Wie rekonfiguriert sich Staatlichkeit? Eine Abweichung vom DRIS in einer Dimension wird in unserer Konzeptualisierung als Verlagerung bezeichnet. Dementsprechend würden wir beispielsweise im Falle einer umfassenden Privatisierung sozialer Wohlfahrtssysteme in allen Wohlfahrtsstaaten von einer Verlagerung in der Interventionsdimension sprechen. In dem Maße aber, wie sich je nach Dimension unterschiedliche Richtungen und Geschwindigkeiten der Verlagerung ergeben, lassen sich asynchrone Prozesse beobachten, die mit dem Begriff der Zerfaserung erfaßt werden können. Wenn sich also Staatlichkeit beispielsweise in der Interventionsdimension privatisiert und in der Rechtsdimension internationalisiert, sprechen wir von Zerfaserung. Zerfaserungsprozesse, die in neue Konstellationen mit synergetischen Effekten münden, stellen eine Re-Konfiguration der Staatlichkeit dar.

Die drei Grundsatzfragen
Vor diesem konzeptionellen Hintergrund sollen drei aufeinander bezogene Grundsatzfragen aufgeworfen werden:

  1. Wie läßt sich der Wandel von Staatlichkeit angemessen beschreiben?
    1. "Zerfasert" der DRIS als Ausdruck einer nationalen Konstellation systematisch und verlagern sich damit die angesprochenen Dimensionen von Staatlichkeit, die sich bislang auf der nationalstaatlichen Ebene vereinigt haben, in unterschiedliche Richtungen?
    2. Welche Re-Konfiguration der Staatlichkeit zeichnet sich aufgrund derartiger asynchroner Verlagerungsprozesse ab?
    3. Oder bleiben die Grundmerkmale von Staatlichkeit in der OECD-Welt der 1970er Jahre als eine nationale Konstellation unverändert?
  1. Wenn ein Wandel von Staatlichkeit empirisch aufgezeigt werden kann, stellt sich die Frage: Was sind die Ursachen?
    1. Treiben allgemeine Wandlungsprozesse - wie etwa Globalisierung, Individualisierung, funktionale Differenzierung oder auch Tertiarisierung - den Wandel von Staatlichkeit in einzelnen Dimensionen systematisch voran und lassen sich weitere bzw. andere spezifische Erklärungen finden?
    2. Oder läßt sich der beobachtete Wandel nicht systematisch auf allgemeine Wandlungsprozesse zurückführen?
    3. Dabei ist kaum zu erwarten, dass sich der Wandel der Staatlichkeit überall in gleicher Weise vollzieht. Wie sind die Unterschiede zu erklären? Die ergänzende Leitfrage lautet also:
    4. Macht sich der Wandel von Staatlichkeit in den unterschiedlichen institutionellen Strukturen unterschiedlicher Staaten auch unterschiedlich bemerkbar?
    5. Oder schlägt sich der Wandel in allen Staaten in ähnlicher Weise nieder?
  1. Wie wirkt sich der Wandel von Staatlichkeit aus?
    1. Wirkt sich der Wandel von Staatlichkeit negativ auf die Herstellung sozialer Güter wie Sicherheit, Rechtsgleichheit, Selbstbestimmung und soziale Absicherung aus?
    2. Oder sind die Auswirkungen auf die Bereitstellung dieser sozialen Grundwerte neutral oder gar positiv?

Das Konzept der Staatswissenschaften
Die adäquate Erforschung von Staatlichkeit im Wandel setzt dabei insofern einen interdisziplinär angelegten Forschungsverbund voraus, als unterschiedliche Dimensionen in der synergetischen Konstellation von unterschiedlichen Disziplinen behandelt werden müssen. Wir nutzen zu diesem Zweck das bei Bleek (2001) dargelegte Konzept der Staatswissenschaften. Während für die Politikwissenschaft der Staat bzw. das "politische System" gleichsam als primärer Untersuchungsgegenstand konstitutiv ist und daher in allen seinen Dimensionen interessiert, können für die anderen staatswissenschaftlichen Disziplinen grobe Zuordnungen vorgenommen werden. In dem Forschungsverbund ist zur Analyse der Dimension des Rechtsstaates vor allem die Kooperation mit Juristen zentral, der Beitrag der Soziologen konzentriert sich vor allem auf die Dimension des demokratischen Nationalstaates und des sozialen Interventionsstaates. Letzterer wird auch meist von den Ökonomen in den Blick genommen.
Im Ergebnis versprechen wir uns von diesem Sfb Kenntnisse über die Ursachen und Wirkungen des Wandels von Staatlichkeit, die

  1. zu einer Rekonzeptualisierung eines grundlagentheoretischen Bausteins der Politik- und Sozialwissenschaften und mithin zu einer Überwindung des methodologischen Nationalismus beitragen und
  2. praxeologisch bei der institutionellen Neugestaltung von Governance-Strukturen zur Förderung von Frieden, Rechtssicherheit, Demokratie und Wohlfahrt nützlich sein können.

Weiterlesen: Dimensionen der Staatlichkeit

 
   
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