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DFG-Antrag 2003-2006

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Die im Text zitierte Literatur finden Sie im Literaturverzeichnis

Forschungsprogramm 2003-2006
Dimensionen der Staatlichkeit

Unser Forschungsprogramm beruht auf einer Konzeptualisierung, die Staatlichkeit an eine historisch reale Konstellation bindet (wider die Überabstraktion), den überladenen Begriff "Staatlichkeit" in getrennt zu untersuchende Dimensionen aufschlüsselt (wider die Überaggregierung) und Veränderungsprozesse möglichst engmaschig, aber doch systematisch zu erfassen sucht (wider die Dichotomisierung).

Der demokratische Rechts- und Interventionsstaat (DRIS) der OECD-Welt der 1960er und 1970er Jahre, den wir hier als Hintergrundfolie verwenden, erscheint deshalb vielen als besonders erfolgreich, weil er dazu beitrug, dass vier zentrale Grundwerte bzw. normative Güter moderner Gesellschaften durchgesetzt werden konnten: Sicherheit, Rechtsgleichheit zusammen mit gleicher rechtlicher Freiheit, politische Selbstbestimmung sowie soziale Wohlfahrt. Regieren zielt heute im wesentlichen auf diese vier Güter, die weitgehend individualrechtliche Entsprechungen haben:

  1. auf den inneren und äußeren Frieden sowie die Eindämmung von kollektiven Risiken, also das Recht auf Schutz der physischen Integrität;
  2. auf die Durchsetzung und institutionelle Absicherung von Rechtssicherheit und Gleichheit vor dem Gesetz, also das Recht auf gleiche, geschützte Freiheitsspielräume;
  3. auf die Sicherung von Entscheidungsverfahren, welche die Partizipation derjenigen ermöglichen, die von einer politischen Entscheidung betroffen werden, also das Recht auf demokratische Selbstbestimmung, und
  4. auf eine für alle Seiten akzeptable Verbindung von wirtschaftlicher Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit, also auf ökonomische Freiheits- und Sozialrechte.

Die vier genannten Ziele des Regierens sind "normative Güter", da sie in unserem Kulturraum von den meisten Menschen als wertvoll und wünschenswert angesehen werden. Sie sind gleichzeitig auch "funktionale Güter", weil eine dauerhafte Nichterreichung eines oder mehrerer dieser Ziele eine Krise der Politik anzeigt. Diese normativen Güter bestehen unabhängig davon, wie sie institutionell konkretisiert werden. Der DRIS der 1960er und 1970er Jahre steht heute, im Rückblick übertrieben formuliert, für "ein goldenes Zeitalter", weil er annäherungsweise und nacheinander vier institutionelle Komponenten bzw. Dimensionen entwickelt hat (Rokkan 1975), durch die diese Grundwerte auch gesichert wurden. In dem Maße, wie diese institutionellen Komponenten des DRIS Veränderungen ausgesetzt sind, gerät auch die staatlich gestützte Absicherung von Frieden, Rechtssicherheit, Demokratie und sozialer Wohlfahrt unter Druck. Wegen der schrittweisen Herausbildung kann sich die folgende Darstellung der vier Dimensionen von Staatlichkeit an einer gewissen historischen Entwicklungslogik ausrichten. Im Kern ist unsere Argumentation aber systematisch angelegt und greift somit in jeder Dimension über die genannten historischen Zeiträume hinaus.

Ressourcendimension und moderner Territorialstaat
Staatlichkeit setzt die auf ein Territorium bezogene Kontrolle von zentralen materiellen Ressourcen voraus, die im Medium der Gewaltmittel und im Medium des Geldes Gestalt annehmen. Moderne Staatlichkeit bildete sich demnach durch eine Monopolisierung der Gewaltmittel und der Steuererhebung heraus. Die Monopolisierung der Gewaltmittel entwickelte sich historisch als Ausscheidungskampf zwischen verschiedenen Territorialherren, und zwar zunächst in Frankreich und England. Schließlich wurde im 18. Jahrhundert praktisch ganz (West-)Europa durch Gewaltmonopolisten "besetzt", was in Deutschland bzw. Mitteleuropa zu Beginn des 19. Jahrhundert seinen Abschluß fand (Nolte 1990; Demel 1993). So wurde die mittelalterliche Ordnung abgelöst, in der verschiedenste Territorialherren auf einem Territorium Gewalt anwenden und Steuern eintreiben konnten (Weber 1972; Mann 1993; Ullmann 1986; Brown 1998; Reinhard 2002a). Mit der Monopolisierung der Gewaltmittel war die der Steuererhebung durch den Staat verbunden. Insbesondere durch die so erlangten finanziellen Ressourcen gelang es dem Staat, die auf ein Territorium bezogene Kontrolle der Gewaltmittel nach außen wie nach innen gegenüber potentiellen Konkurrenten zu verstärken und zu stabilisieren (Elias 1969; Tilly 1985; Giddens 1985; Ertmann 1997). Die Kontrolle über diese Ressourcen - die später in den neu entstandenen Territorialstaaten eine wesentliche Voraussetzung für die Ausformung von Rechten, für die Rechtssicherheit der Menschen und die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates darstellte - bildete sich zunächst als krudes Gewalt- und Steuermonopol aus. Per se waren diese zunächst nicht normativ gebunden: Auch im nationalsozialistischen Deutschland bestand das Gewalt- und Steuermonopol, ohne dass es in eine Rechtsstaatlichkeit eingebunden gewesen wäre (Stolleis 1999:380ff.).

Der Prozeß der Monopolisierung der Gewaltmittel und der Steuererhebung verlief nicht überall gleichartig. Insbesondere die spätere Institutionalisierung des kruden Gewalt- und Steuermonopols erfolgte auf unterschiedlichen Wegen, so dass heute in der OECD-Welt bei der Ressourcendimension von Staatlichkeit erhebliche Unterschiede bestehen und sich die vormals sehr enge Beziehung zwischen Gewalt- und Finanzmitteln bis heute etwas gelockert hat. Als typologischer Unterschied springt in der Ressourcendimension insbesondere der zwischen Zentral- und föderalistischen Staaten ins Auge. Während sich in Zentralstaaten die Gewaltmittel und die Steuererhebung im Zentrum konzentrieren, verfügen in föderalistischen Staaten der Bund und die Gliedstaaten über nennenswerte Gewaltmittel und Steuerbefugnisse.

Rechtsdimension und souveräner Rechtsstaat
Nachdem der Staat praktisch in ganz Westeuropa Gewaltmittel und Steuererhebung auf seinem Territorium monopolisiert hatte, begann spätestens im 17. Jahrhundert ein Prozess, in dem den Machthabern nach innen wie außen rechtliche Restriktionen auferlegt wurden. Im Ergebnis wurde das krude Gewaltmonopol, das sich im Zuge der Monopolisierung der Gewaltmittel herausgebildet hatte, in ein Monopol der legitimen Gewaltsamkeit (Max Weber) überführt (vgl. Tilly 1998).

Nach außen ... wurde die Herrschaft des Staates völkerrechtlich abgestützt, indem sich die Staaten wechselseitig als souverän anerkannten. Äußere Souveränität meint dabei das von anderen Staaten anerkannte Recht eines Staates, auf seinem Territorium die ausschließliche Herrschaftsgewalt auszuüben, andere Staaten von seiner Herrschaft ausschließen zu dürfen und als gleichberechtigte Herrschaftsorganisation zu gelten (Morgenthau 1967:305; Krasner 1999a). Eine so verstandene äußere Souveränität begann sich als rechtlich gestützte Institution bereits infolge der Religionskriege, etwa im Augsburger Religionsfrieden von 1555, anzudeuten, wurde mit dem Westfälischen Frieden von 1648 als grundlegende Rechtsnorm zur Regulierung der Herrschaftsverhältnisse zwischen Staaten in gewissem Umfang formalisiert und setzte sich - säkular betrachtet - in der Folgezeit zunehmend durch. Durch dieses Recht schlossen die Machthaber in den Staaten nicht nur Kaiser und Papst von der Herrschaftsausübung auf ihrem Territorium aus, sondern drängten zudem Herrschaftskonkurrenten - Stadtstaaten wie in Norditalien oder auch Städteverbindungen wie die Hanse - an den Rand (Spruyt 1994; Keohane 1995).

Nach innen ... wurde die Herrschaft der Staaten zunehmend in Recht gegossen. Die "Willkürherrschaft" wurde auch hier Schritt für Schritt durch eine Herrschaft des Rechts - durch rule of law - abgelöst. In den Staaten etablierte sich eine Gewaltenteilung, also eine Trennung von Rechtsetzung, Rechtsanwendung und Rechtsdurchsetzung (Montesquieu 1784). Dies stärkte die "neue" Rechtssicherheit weiter, zumal der Staat selbst zunehmend durch sein eigenes Recht bzw. sein Verfassungsrecht - oder seine funktionalen Äquivalente - gebunden war. Der Staat differenzierte sich aus und konnte vor dem Hintergrund seines Gewaltmonopols die alleinige Rechtsetzung an sich ziehen und insbesondere eine zuverlässige Rechtsauslegung und -durchsetzung garantieren, was wiederum der Wirtschaft des Gemeinwesens zugute kam (North 1990, 1988; Spruyt 1994). Diese zunehmend in Recht gegossene monopolisierte Herrschaft des Staates auf einem bestimmten Territorium schuf ein Maß an Rechtssicherheit, das so im 14. und 15. Jahrhundert noch unbekannt war. Dadurch konnte - nach vielen weiteren Zwischenschritten - die Rechtsgleichheit aller Bürger, und später auch der Bürgerinnen, gesichert werden. Die innere und äußere Komponente der Rechtsstaatlichkeit verbinden sich zu einer Einheit, wenn es eine allgemein anerkannte, national definierte judikative Instanz gibt, die im Streitfall zwischen staatlichen Organen, aber auch bei Kollisionen zwischen Völkerrecht und nationalem Recht letztentscheidend auftritt (vgl. Mayer 2000). In diesem Sinne können nationale Verfassungsgerichte oder ihre parlamentarischen Äquivalente als Symbol von Rechtsstaatlichkeit gelten.

Im Korridor der Institution Rechtsstaat haben sich innerhalb der OECD-Welt ähnlich wie bei der Dimension des Territorialstaates verschiedene Ausprägungen ergeben. Obgleich Souveränität normalerweise als dichotomisch - man hat sie oder hat sie nicht - betrachtet wird, lassen sich bei genauerer Betrachtung Abweichungen und Varianzen erkennen. So gab und gibt es "Staaten", die als Staaten zweifelsohne Defizite bei der externen Anerkennung aufweisen, so etwa Taiwan oder die ehemalige Deutsche Demokratische Republik. Ferner gab es insbesondere mit Österreich und der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg Staaten, die zwar international breit anerkannt waren, denen aber kriegsbedingt zunächst nur eingeschränkte Rechte zugestanden wurden. Auch bei der Ausbildung der Souveränität gibt es somit selbst innerhalb der voll entwickelten DRIS erhebliche Varianz.

Auch was die innere Rechtsordnung angeht, bestehen zwischen verschiedenen Staaten durchaus gewichtige Unterschiede. Am bekanntesten ist die Unterscheidung zwischen Staaten wie der Bundesrepublik oder Frankreich, die in der Tradition des droit civil stehen, und Staaten wie Großbritannien oder die USA, die einer common law-Tradition folgen. Während in der ersten Tradition der Rechtsprechung eine bloß rechtsanwendende Funktion zugewiesen wird, bei der der Wille des Gesetzgebers möglichst unverfälscht umgesetzt werden soll, wird in der common law-Tradition der Rechtsprechung selbst eine gewisse rechtsgenerative Funktion zugeschrieben. In Ländern der kontinental-europäischen Tradition ist die Regelung gesellschaftlicher Beziehungen vergleichsweise stark etatisiert - also staatsfixiert -, während in der angelsächsischen Welt die gesellschaftliche Selbstregulierung einen bedeutenderen Platz einnimmt.

Legitimationsdimension und demokratischer Nationalstaat
Im 19. und 20. Jahrhundert bildete sich eine weitere Dimension von Staatlichkeit aus, die des demokratischen Nationalstaates. Legitim im empirischen Sinne der sozialen Akzeptanz ist ein Gemeinwesen dann, wenn die Beherrschten ein gewisses Maß an internalisierter Folgebereitschaft gegenüber den kollektiv bindenden Regelungen aufweisen. Im Zuge der Entwicklung des DRIS ist eine demokratische Verfassung des Staatswesens zur wichtigsten (aber nicht einzigen) Quelle einer so verstandenen Legitimation geworden. Demokratische Legitimität im normativen Sinne beruht auf der demokratischen Verfassung der Herrschaftsform. Sie besteht, wenn die Ermächtigung zur Gesetzgebung nach fairen Verfahren und in rechtsstaatlich begrenztem Umfang erteilt wird, und wenn die von der Gesetzgebung betroffenen Adressaten auch an ihrem Zustandekommen beteiligt waren.

Voraussetzung für die Ausbildung der Legitimität eines Staatswesens ist zunächst, dass die Bürgerinnen und Bürger eine politische Gemeinschaft bilden, die sich gegenüber dem Staat und seinem Recht loyal verhält. Insofern war die Herausbildung von nationalen Gemeinschaften ein wichtiges Element staatlicher Legitimität. Der Staat konnte bei der Förderung einer politischen Gemeinschaft vielfach an bestehende protonationale Gemeinschaften anknüpfen. Allerdings trug er beispielsweise durch die Schulpflicht oder den Militärdienst selbst erheblich dazu bei, dass sie sich vor allem im Laufe des 19. Jahrhunderts zu nationalen Gemeinschaften verdichteten (Hobsbawm 1990). Aber auch durch zunehmend sich verbreitende Massenmedien begünstigt, entstanden "vorgestellte" nationale Gemeinschaften, die die lokalen Gemeinschaften überlagerten und sich gegenüber anderen "vorgestellten" nationalen Gemeinschaften abgrenzten (Anderson 1991). Die Nationen, die aufgrund der Politisierung dieser Gemeinschaften entstanden, transformierten die bestehenden Staaten in Nationalstaaten (Deutsch 1972). Nun verlangten auch alle Nationen ohne "eigenen" Staat, "ihren" Nationalstaat begründen zu dürfen. Die Grenzen von Nation und Nationalstaat wurden im 19. und 20. Jahrhundert in West- und Mitteleuropa zunehmend deckungsgleich (Gellner 1991). Dadurch akzentuierte sich der territoriale Fokus der politischen Ordnung weiter (Maier 2000).

Der Nationalismus war zunächst ein institutionelles Prinzip, das mit der Forderung nach Demokratisierung mehr oder weniger Hand in Hand ging. Getragen wurden beide von dem normativen Prinzip der Selbstbestimmung. Während der Nationalismus das Postulat beinhaltete, dass eine nationale Gemeinschaft nicht fremdbestimmt sein dürfe, bezieht sich die Legitimität als internalisierte Folgebereitschaft allgemein darauf, intern das Gewaltmonopol des Staates und seinen Gebrauch durch die eigene Gesellschaft anzuerkennen. Die amerikanische und dann endgültig die Französische Revolution entwickelte in der Folge den Gedanken, dass der Staat der Gesellschaft gehöre und die Anerkennung des Gewaltmonopols von der demokratischen Verfassung des Gemeinwesens abhänge. Geschuldet war diese Entwicklung dem Aufstieg des Bürgertums, das eine Unterstützung des Monarchen gegen Adel und Klerus zunehmend davon abhängig machte, selbst an der Herrschaftsausübung beteiligt zu werden (Weber 1972; Elias 1969; Spruyt 1994). Dieser Übergang übersetzte sich schließlich insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine allgemeine Demokratisierung der Staaten in Westeuropa und Nordamerika, die der Gesellschaft eine institutionell gesicherte Beteiligung an der Herrschaftsausübung garantierte (Poggi 1990).

Zwar haben alle Staaten der heutigen OECD-Welt eine derartige, auf der nationalen Gemeinschaft basierende Demokratisierung durchlaufen. Dennoch sind auch auf dem Korridor des demokratischen Nationalstaates bemerkenswerte Unterschiede erhalten geblieben. Hinsichtlich der politischen Gemeinschaftsbildung selbst sind bei den "Quellen der Mitgliedschaft" wichtige Unterschiede auszumachen (für Deutschland vgl. Gosewinkel 2001). Eine bekannte, wenn auch umstrittene Unterscheidung ist die zwischen ethnisch und zivil definierten nationalen Gemeinschaften. Gemeinschaften mit ethnisch definierter Identität haben sich demnach vor allem dort herausgebildet, wo homogene Gemeinschaften bestanden, die jedoch lange nicht über eigenes Territorium verfügten. Gemeinschaften mit zivil definierter Identität sind hingegen eher dort entstanden, wo mehrere verschiedene Gemeinschaften in ein klar definiertes Territorium eingewandert sind (Lepsius 1990a, b; Rokkan 2000).

Doch nicht nur bei der politischen Gemeinschaft, sondern auch bei der organisatorischen Ausgestaltung der politischen Demokratie gibt es in der OECD-Welt erhebliche Unterschiede (vgl. als Überblick Schmidt 2000). So sind parlamentarische Demokratien von präsidentiellen Systemen zu unterscheiden (Lijphart 1992; Hartmann 2000), unitarische von föderal organisierten Demokratien (Wachendorfer-Schmidt 2000; Braun 2000) sowie repräsentative von stärker direkt-demokratischen politischen Systemen (Luthardt 1994; Wagschal/Obinger 2000). Ferner ist bspw. zu unterscheiden zwischen Mehrheitsdemokratien, in denen politische Entscheidungen in den Parlamenten weitgehend auf der Mehrheitsregel gründen, und Konkordanzdemokratien, in denen Entscheidungen unter dem Primat des, so Gerhard Lehmbruch, "gütlichen Einvernehmens" erfolgen (Czada 2000; Lijphart 1984, 1999; Lehmbruch 1968, 2000). Damit eng verbunden sind die Unterschiede zwischen korporatistischen und pluralistischen Staat-Verbände-Beziehungen (vgl. Lehmbruch 1984; Lijphart/Crepaz 1991; Kenworthy 2000; Schmitter/Lehmbruch 1979; Siaroff 1999).

Wohlfahrtsdimension und Interventionsstaat
Vom modernen Staat wird insbesondere seit dem späten 19. Jahrhundert erwartet, er solle sich nicht auf die Aufgaben eines Nachtwächterstaates zurückziehen, sondern habe als Interventionsstaat vielfältige Aufgaben zu übernehmen (Grimm 1994; Kaufmann 1994). Der Staat hatte sich gegenüber Städtebünden und Stadtstaaten schließlich nur durchsetzen können, weil er bestimmte Aufgaben relativ besser erfüllen konnte, so dass er entscheidend zur Wohlstandsmehrung der Gesellschaft beitrug (North 1981:24; Spruyt 1994). Der absolutistische oder "frühmoderne" (Maier 1976) Staat begann die Wohlfahrt zu mehren, indem er Marktbarrieren beseitigte und durch die Standardisierung u.a. von Maßen und Gewichten, aber auch durch seine Infrastruktur- und Bildungspolitik die Grundlagen für eine nationale Verkehrswirtschaft legte. Um sich gegenüber anderen Staaten auch militärisch behaupten zu können, waren die absolutistischen Staaten gezwungen, eine Volkswirtschaft aufzubauen, die effizientes Wirtschaften erlaubte. So übernahm der Staat regulative Aufgaben wie die Gewerbeaufsicht, die Planung der Flächennutzung und die Kontrolle der Arbeitssicherheit. Schließlich sollten die Staaten im späten 19. Jahrhundert auch zunehmend den Wohlstand innerhalb der Gesellschaft sozial ausgewogener umverteilen. Die auf dem Markt zustande gekommene Primärverteilung der Einkommen sollte durch eine staatlich vermittelte Sekundärverteilung korrigiert werden. Die Durchsetzung einer solchen modernen Wohlfahrtspolitik war vor allem der mit der Industrialisierung rasch wachsenden Arbeiterschaft geschuldet, die eine krass ungleiche Verteilung des erwirtschafteten Wohlstandes nicht länger hinnehmen wollte. Im voll entwickelten sozialen Interventionsstaat übernimmt die Gesellschaft fortan Verantwortung für die einzelne Bürgerin bzw. den einzelnen Bürger (Marshall 1975:15; Marshall 1992a-c; Kaufmann 1997:21; Lampert 1999, 2001; Rieger/Leibfried 2001; Ritter 1991). Oft ist allerdings auch die Primärverteilung selbst mit Leitplanken versehen (etwa durch Tarifsysteme), was leicht übersehen wird und den "Sozialstaat" gewissermaßen in seiner Umwelt verankert. Insbesondere nach 1945 wurde mit dem keynesianischen Wohlfahrtsstaat dem Staat zudem die Aufgabe übertragen, für fortwährendes Wirtschaftswachstum einschließlich Stabilität und Vollbeschäftigung zu sorgen (Barr 1998; BMA & Bundesarchiv 2001ff.; Lutz 1984; Flora 1981ff.; Flora/Alber 1981; Flora/Heidenheimer 1981a, b; Ritter 1991, 1989).

Im Ergebnis zeichnet sich der Interventionsstaat durch das Zusammenspiel von drei Typen politischer Eingriffe aus (Cerny 1995; Streeck 1998; abwägend Leibfried/Pierson 1995:454ff.). Der Staat regelt die Markt- und Produktionsprozesse selbst (market-making), stellt im Sinne des market-braking die Humanressourcen, die infrastrukturellen Voraussetzungen und gewisse grundlegende Dienstleistungen bereit (u.a. traditionell als "Staat der Daseinsvorsorge" bekannt oder als économie public), und korrigiert die Marktergebnisse durch die Sekundärverteilung des Einkommens (Sozialstaat), durch makroökonomische Politik und andere mikroökonomische Formen der Risikoabsorbtion (market-correcting).

Freilich hat sich auch der Interventionsstaat in der OECD-Welt nicht einheitlich entwickelt, sondern verschiedene Ausprägungen im gemeinsamen Korridor erfahren. Die bekanntesten typologischen Unterscheidungen in der Literatur beziehen sich dabei meist auf den sozialen Interventionsstaat bzw. den Wohlfahrtsstaat als die Institutionalisierung von marktkorrigierenden Politiken. Je nach gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und Traditionen haben sich in dem gemeinsamen Korridor des sozialen Interventionsstaates unterschiedliche Wohlfahrtsregime ausgebildet (vgl. etwa Esping-Andersen 1990; Hicks 1999; Huber/Stephens 2001; Leibfried 2001; breiter ansetzend Cameron 1978). Unterschieden wird das insbesondere in Kontinentaleuropa verbreitete konservative Wohlfahrtsregime, in Skandinavien "beheimatete" sozialdemokratische Wohlfahrtsregime sowie in Kanada, den USA und mit Einschränkungen auch in Großbritannien vorzufindende liberale Wohlfahrtsregime. Zudem wird die Existenz eines südeuropäischen Regimes und eines "radikalen" Modells sozialer Sicherung in den Antipoden postuliert (u.a. Ferrera 1996; Castles/Mitchell 1993; als Überblick Arts/Gelissen 2002).

Diese Regime unterscheiden sich durch historisch gewachsene unterschiedliche Gewichtungen der zentralen Wohlfahrtsproduzenten Staat, Markt und Familie und auch im erfassten Personenkreis, den Zugangsvoraussetzungen zu Leistungen (Staatsbürgerschaft, Bedürftigkeit, Erwerbsarbeit), ihrem Leistungsniveau und der Finanzierung sowie dem hierdurch abgesteckten Grad an Statuserhalt (Stratifizierung) und dem Ausmaß des Zwangs zur Verwertung der eigenen Arbeitskraft (Dekommodifizierung). Sie divergieren auch in ihren "Leitsternen": Was in Deutschland die Rente bedeutet, ist in England der Gesundheitsdienst und in Frankreich das Erziehungssystem.

Die Gesamt-Konstellation: der DRIS
Wie auch immer die genaue Abfolge bei der Aneignung der verschiedenen institutionellen Dimensionen moderner Staatlichkeit im Einzelfall ausfiel, im Ergebnis wurde in den 1960er und 1970er Jahren in der OECD-Welt Staatlichkeit in allen vier Komponenten auf nationaler Ebene akzentuiert. Das Ergebnis war der DRIS, über dessen Wandel heute diskutiert wird. Die Aneignung der verschiedenen Komponenten durch den Staat in der OECD-Welt ist nicht nur historisch jüngeren Datums. Sie ist zudem bislang bei den meisten Staaten außerhalb der OECD-Welt - und teilweise auch bei jüngeren OECD-Mitgliedstaaten wie Mexiko oder der Türkei - kaum gelungen oder zumindest noch nicht abgeschlossen. Mit anderen Worten: Die Ausdifferenzierung verschiedener Dimensionen in der Entwicklung von Staatlichkeit ist nicht nur analytisch möglich, sondern auch empirisch beobachtbar. Wendet man sich Staaten außerhalb der OECD-Welt zu, so ist leicht erkennbar, dass heute meist nur einzelne Dimensionen der Staatlichkeit voll ausgebildet sind. Kolumbien beispielsweise hat kein gesichertes Gewalt- und Steuermonopol, es kann in diesem Fall auch kaum von einer institutionalisierten Demokratie oder einem institutionalisierten Wohlfahrtsregime gesprochen werden. Die Staatlichkeit Kolumbiens beschränkt sich auf seinen Rechtsstatus als souveräner Staat. Taiwan hingegen vermißt eine Anerkennung als souveräner Staat, kann dafür aber auf ein ausgebildetes Gewalt- und Steuermonopol sowie eine wachsende Legitimation durch die sich entwickelnde nationale Gemeinschaft verweisen. Der Irak Saddam Husseins konnte sich auf ein Gewalt- und Steuermonopol und auf den völkerrechtlichen Status eines souveränen Staates stützen, jedoch kaum beanspruchen, ein demokratischer Rechtsstaat mit einem funktionierenden Wohlfahrtsregime zu sein. Schließlich existieren defekte Demokratien, in denen die Eliten zwar demokratisch legitimiert sind, Herrschaft jedoch nicht rechtsstaatlich eingehegt ist. Beispiele für solche illiberalen Demokratien sind Argentinien oder die Philippinen (Merkel 1999:368).

Trotz dieser Einschränkungen kann festgehalten werden, dass der voll ausgebildete DRIS der OECD-Welt unter Anerkennung gewisser institutioneller Ausgestaltungsspielräume vielerorts dem Medianwähler als vorbildhaft und nachahmenswert gilt (vgl. z. B. Kaase/Newton 1995). Wird substantiell vom DRIS-Ideal bei einer der vier genannten Dimensionen abgewichen, so erscheint dies auch den Betroffenen zumeist als defizitär, als unter- oder fehlentwickelte Staatlichkeit.

Für unseren Zusammenhang ist jedoch entscheidend: Im DRIS der OECD-Welt der 1960er und 1970er Jahre bündelten sich alle vier Dimensionen von Staatlichkeit. Alle vier Dimensionen der Staatlichkeit konzentrierten sich auf der nationalstaatlichen Ebene. Hier war das Gewalt- und Steuermonopol angesiedelt und auch der Interventionsstaat verankert. Die Institutionalisierung von Demokratie wurde bis vor kurzem exklusiv auf nationalstaatlicher Ebene gedacht, genauso wie die Herrschaft des Rechts an den nationalen Rechtsstaat gebunden erscheint. Der Rechtsstatus eines souveränen Staates war sogar zweifach an die nationalstaatliche Ebene gebunden: Schon territorial eingehegte Herrschaftsverbände (nationalstaatliches Subjekt der Anerkennung) erkannten andere sich territorial einhegende Herrschaftsverbände (nationalstaatliches Objekt der Anerkennung) als souveräne Staaten an. Da also alle vier Dimensionen der Staatlichkeit in die nationale Ebene eingebunden waren, kann der DRIS als Ausdruck einer nationalen Konstellation gesehen werden.

Diese nationale Konstellation muss synergetisch betrachtet werden, da die vier Dimensionen von Staatlichkeit sich wechselseitig begünstigten und stabilisierten. Ohne das Gewalt- und Steuermonopol wäre ein wirksames Rechtssystem kaum durchsetzbar gewesen. Ohne ein solches Rechtssystem wäre jedoch kaum die an den Staat gebundene politische Gemeinschaft entstanden. Ohne die Institutionalisierung demokratischer Verfahren auf der staatlichen Ebene hätte der Ausbau sozialer Wohlfahrtsregime kaum erfolgen können. Aber ohne seine demokratische Legitimierung und rechtsstaatliche Einhegung ist auch das Gewalt- und Steuermonopol kaum dauerhaft zu sichern usf..

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