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Konzept in Kürze
DFG-Antrag 2011-2014

Hinweis
Die im Text zitierte Literatur finden Sie im Literaturverzeichnis

Forschungsprogramm 2011-2014
Leitthesen

Unsere Untersuchung der Folgen der veränderten Konstellation von Staatlichkeit orientiert sich an drei Leitthesen, die den besonderen Fragestellungen und Erwartungen der Teilprojekte Struktur und Richtung geben und unserer Synthese der Teilprojektergebnisse zugrunde liegen werden. Die Thesen greifen Überlegungen aus der Literatur zum Staatswandel auf. Sie sind mithin Erwartungen, die unsere empirische Forschung leiten werden, die aber keineswegs schon als bewährte Aussagen oder gar bestätigte Theorien anzusehen sind. Die Thesen beziehen sich auf unsere Forschungsleitfragen nach den Folgen der neuen Konstellation von Staatlichkeit und nach den Stabilisierungstendenzen dieser Konstellation. Die Thesen sind:

  1. auf Outcomes bezogen: die Problemdruckthese,
  2. auf Reaktionen bezogen: die Anspruchstransferthese,
  3. auf Stabilisierungstendenzen bezogen: die Kollisionsthese.

Die Thesen weisen Nähen zu den theoretischen Forschungsansätzen auf, die unsere Erklärungsarbeit angeleitet haben. Die Problemdruckthese steht eher in der Tradition funktionalistischer Forschungsansätze, die Kollisionsthese hat einen deutlich institutionalistischen Bias, während mit der Anspruchstransferthese auf akteurszentrierte und sozialkonstruktivistische Überlegungen zurückgegriffen wird.

Outcomes: Problemdruckthese
Werden die normativen Güter, die sich in der DRIS-Konstellation empirisch als Standards und Wertbezüge herausgebildet hatten, noch in gleichem Maße bereitgestellt wie in den 1970er Jahren? Die Problemdruckthese bietet eine differenzierte Antwort auf diese Frage. Ihr zufolge ist zu erwarten, dass – verglichen mit dem DRIS – in der neuen Konstellation zerfaserter Staatlichkeit die beiden normativen Güter Wohlfahrt und Sicherheit auf einem höheren Niveau angeboten, die Güter Rechtsstaatlichkeit und demokratische Legitimität hingegen auf einem niedrigeren bereitgehalten werden. Dem geht auch das neue Teilprojekt über "Reaktionen auf Güterkonflikte der postnationalen Sicherheitspolitik" (D7) nach und es schließt dabei eine thematische Lücke.

Gemäß der Problemdruckthese wurde der Staatswandel von einer Veränderung der vorherrschenden politischen Problemlagen angetrieben: Die Zunahme grenzüberschreitender Problemkonstellationen löste die Internationalisierung aus; Steuerungsdefizite in der staatlich-bürokratischen Aufgabenwahrnehmung führten dann zum Anwachsen transnationaler und privater Lösungen (vgl. zusammenfassend Benz 2009b). Die Anlagerung neuer privater, transnationaler und internationaler Herrschaftsträger war also eine Folge der Steuerungs- und Problemlösungsdefizite des DRIS als dem territorialen Herrschaftsmonopolisten. Die Anlagerung diente dazu, diese Defizite zu überwinden oder sie doch zumindest abzuschwächen (vgl. Goldstein & Steinberg 2010). Steuerungsdefizite treten dort auf, wo materielle Policy- Probleme entstehen, also bei der Gewährleistung von Wohlfahrt und Sicherheit.

Daraus folgt die These: Die Sicherheits- und Wohlfahrtsprobleme der Gegenwart können in den internationalisierten, privatisierten oder transnationalen Arrangements zerfaserter Staatlichkeit besser gelöst werden, als das im alten Container- Staat des Goldenen Zeitalters der Fall gewesen ist. Kommt es zu solchen Neuarrangements, sollte sich das relative Niveau der Bereitstellung normativer Güter bei Wohlfahrt und Sicherheit erhöhen.

Da aber bei dieser effektiveren Aufgabenwahrnehmung neue Institutionen und Politikprozesse zu entwickeln waren, die zunächst allein den Anforderungen einer effektiven und effizienten Problemlösung folgten, konnte es - als Nebenwirkung der erfolgreichen Policy-Problemlösung - zu Verlusten bei jenen normativen Gütern kommen, die sich auf den Politikprozess und auf das institutionelle Design beziehen: Dann waren Niveauverluste bei der Rechtssicherheit und der demokratischen Legitimität zu erwarten. Die Einrichtungen, die nötig waren und sind, um die neuen globalen Problemlagen zu bewältigen, konnten, wenn sie effektiv sein sollten, nicht dem eher hierarchischen Muster nationalstaatlicher Politik folgen. Die neuen Formen von Global Governance, transnationalen Regimen, von PPPs (Public-Private Partnerships) und privaten Firmen, die in vormals offentlichen Sektoren aktiv sind, erscheinen daher, wenn man sie an den nationalstaatlichen Standards misst, als defizitär.

Die Problemdruckthese besagt mithin: Ergebnis der neuen Konstellation von Staatlichkeit ist ein erhöhtes Niveau an Wohlfahrt und Sicherheit bei gleichzeitigen Defiziten in der demokratischen Legitimität und Rechtsstaatlichkeit. Als Vergleichsmaßstab, mit dem das erreichte Niveau eines normativen Gutes beurteilt wird, dient der demokratische Rechts- und Interventionsstaat der 1960er und 1970er Jahre. Gegenüber dem Vergleich mit anderen Ländern und Ländergruppen, einer kontrafaktischen Argumentation oder dem Aufstellen eines theoretisch begründeten Idealmaßstabs oder Idealniveaus hat dieses Vorgehen einen Vorteil: Das einmal erreichte Niveau der von uns betrachteten OECD-Staaten, das auch als ein eigener Faktor – nämlich als Erwartung der Beibehaltung dieses Niveaus – in das politische Geschehen eingeht, wird empirisch kontrolliert in die Untersuchung einbezogen.

In einer solchen Fassung der Problemdruckthese werden allerdings Verteilungsfragen ausgeklammert. Eine modifizierte Variante sollte daher das Bild insbesondere beim normativen Gut Wohlfahrt weiter differenzieren. Danach steigt zwar das Wohlfahrtsniveau oder es bleibt zumindest erhalten, aber die Verteilung verändert sich ungünstig: Erhöhtes Wachstum und zunehmender Wohlstand gehen mit verstärkter Ungleichverteilung einher (vgl. nur OECD 2008). Man kann diese These noch einen Schritt weiter entfalten und von einer Angleichung der Wohlstandsniveaus zwischen Staaten bei gleichzeitiger Zunahme der innerstaatlichen Ungleichheit zwischen Regionen und Personengruppen sprechen (für Europa: Mau & Verwiebe 2009).

Die Erwartungen der einfachen und modifizierten Problemdruckthese sind auch mit vorliegenden Gegenevidenzen (z.B. Stärkung parlamentarischer Kompetenzen bei Internationalisierung: B. Rittberger & Schimmelfennig 2006; B. Rittberger 2009) zu konfrontieren und zu überprüfen. Das geschieht vor dem Hintergrund der Ergebnisse der ersten Phase, in der das höchst unterschiedliche Ausmaß an Privatisierung, Transnationalisierung und Internationalisierung in den einzelnen Politikfeldern herausgearbeitet und deshalb die Metapher der zerfaserten Staatlichkeit in den Vordergrund gerückt wurde.

Reaktionen: Anspruchstransferthese
Im Goldenen Zeitalter des DRIS war der Nationalstaat die zentrale Adresse für politische Ansprüche (Voice) oder doch jedenfalls für politische Loyalität (Anpassung). Da so gut wie alle Herrschaft vom Staat ausging und alle normativen Güter vom Staat unmittelbar selbst hergestellt wurden, erschien diese Zuschreibung politischer Letztverantwortung als natürlich. Erhöht sich mit der Pluralisierung der an der Herrschaftsausübung beteiligten Akteure und mit der Zerfaserung von Staatlichkeit die Zahl und die Art der Referenzadressen, an die die Bürgerinnen und Bürger ihre politischen Ansprüche richten und auf die sie ihre Loyalitäten beziehen? Hierzu werden in der Literatur zwei gegensatzliche Thesen vertreten. Gemäß der Politisierungsthese von Zürn u.a. (2007, 2008) zieht der Kompetenzgewinn internationaler Organisationen - und, so wird man analog unterstellen durfen, transnationaler und privater Akteure - eine entsprechende Politisierung ihrer Handlungen nach sich. In dem Maße, wie nicht-staatliche Einrichtungen mehr Herrschaftskompetenz jenseits des Staates ausüben, werden sie zunehmend zum Ziel politischer Forderungen bzw. von Loyalitätskundgebungen der Bürger (vgl. auch Noel & Therien 2008). Die Politisierung folgt also der tatsächlichen Herrschaftsausübung auf dem Fuß. Damit bleibt ein ungefahres Gleichgewicht in dem Sinne erhalten, dass jeweils die Akteure und Institutionen politisch verantwortlich gemacht werden, die tatsächlich Herrschaft ausüben: Institutionelle Orte der Herrschaft sind immer auch Orte der Politisierung; die politische Letztverantwortung liegt bei den Akteuren, die politische Herrschaft auch tatsächlich ausüben. Dies sollte zur Stabilisierung der neuen Konstellation von Staatlichkeit beitragen.

Die von uns in der ersten Phase entwickelte Zerfaserungsthese geht demgegenüber davon aus, dass die Orte der Herrschaftsausübung und die der Politisierung in der Zerfaserung zunehmend auseinander fallen. Der Staat teilt sich zwar in wachsendem Maße mit nicht-staatlichen Akteuren die Ausübung von Entscheidungs- und Organisationskompetenz, aber die politische Letztverantwortung für die Herrschaftsverhältnisse verbleibt bei ihm. Der Staat ist also weiter die zentrale Referenzadresse für politische Forderungen und Loyalitäten, obwohl er nicht mehr der alles kontrollierende und in manchen Politikbereichen nicht einmal mehr der alles bestimmende Herrschaftsakteur ist (Genschel & Leibfried 2008; Genschel & Zangl 2007, 2008). Diese Inkongruenz von Herrschaftsausübung und Politisierung könnte zu Friktionen und Krisen führen, die die Stabilisierungspotenziale der neuen Konstellation zerfaserter Staatlichkeit beschränken und die Rufe nach einer Neubündelung von Herrschaftskompetenz an einem einzigen Ort laut werden lassen (vgl. Kriesi u.a. 2008; Hooghe & Marks 2008).

Diese beiden Thesen - Anspruchstransfer und Zerfaserung - lassen sich miteinander verbinden: Zwar werden Ansprüche auf die neuen Herrschaftsträger übertragen, doch müssen sich diese auch daran messen lassen, wie sie die traditionellen normativen Guter bereitstellen. Aber die Gesamtverantwortung für die Bereitstellung des Guts in der neuen Konstellation verteilter Verantwortungen wird weiterhin dem Staat zugeschrieben. Viele gesellschaftliche und politische Akteure werden zunächst bestrebt sein, in dem Maße, in dem internationale Institutionen, transnationale Organisationen und private Vereine, Verbände und Unternehmen bei der Herstellung vormals staatlich bereitgestellter normativer Güter an Bedeutung gewinnen (Fuchs 2005; Woll 2008), diese nicht-staatlichen Einrichtungen zu beeinflussen, um eine gleichwertige, möglichst sogar in Niveau, Verteilung und Struktur verbesserte Bereitstellung solcher Güter zu erreichen. Da Unternehmen und private Regime, internationale und supranationale Organisationen, transnationale Kooperationen und Netzwerke (auch im Zusammenspiel: vgl. Caporaso & Tarrow 2009) Aufgaben übernehmen, die in seinem Goldenen Zeitalter vom Nationalstaat wahrgenommen wurden, werden also nicht nur Ansprüche auf wirtschaftliche und soziale Wohlfahrt bzw. auf physische Sicherheit auf diese neuen Träger von vormals vorrangig nationalstaatlichen Aufgaben übertragen, sondern eben auch Ansprüche auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Teilnahme. In Reaktion auf die neue Konstellation von Staatlichkeit werden bisher an den Staat gerichtete Ansprüche nunmehr an die neuen Träger von Herrschaft und Aufgabenverantwortung gerichtet (Anspruchstransfer).

Demnach wird dem Staat weiter die Letztverantwortung für das Gesamtarrangement zugeschrieben. Es wird dem Staat weiterhin, so die modifizierte These, als Aufgabe zugerechnet, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass die neuen Herrschaftsträger den gewachsenen Ansprüchen entsprechen können. Für dieses Funktionieren der neuen Herrschaftskonstellation wird beim Versagen der nichtstaatlichen Aufgabenträger weiterhin der Staat verantwortlich gemacht (Stasch 2009). Eine zweistufige Verantwortungszuweisung bildet sich aus: Die privaten und internationalen Träger sind unmittelbar gefordert, ihr Handeln am Maßstab der vormals staatlich gesicherten normativen Güter zu rechtfertigen. Entsprechen sie diesen Ansprüchen nicht, werden aber nicht nur sie, sondern auch der Staat delegitimiert, dem immer noch die Verantwortung dafür zugeschrieben wird, dass das Gesamtarrangement an Herrschaftsträgern funktionsfähig ist. Es kommt beim Anspruchstransfer gerade nicht dazu, dass der Staat von seiner grundlegenden Verantwortung entlastet wird.

Die These des Anspruchstransfers besagt also: Die neuen Träger von Herrschafts- und Aufgabenverantwortung werden zunehmend mit politischen Ansprüchen konfrontiert, die bislang ausschließlich an den Nationalstaat gerichtet waren (Anspruchstransfer). Die Verantwortung für das Funktionieren des Gesamtarrangements und das befriedigende Gesamtergebnis von Herrschaft wird aber weiterhin dem Staat zugeschrieben.

Stabilisierung: Kollisionsthese
Die Grundannahme der Protagonisten von Global Governance ist: Dem Geflecht aus Staaten, internationalen Einrichtungen und transnationalen Vernetzungen wird ein Selbststeuerungspotenzial und die Fähigkeit zugesprochen, "Gleichgewichte" auszubilden und aufrechtzuerhalten – und das geschieht, obwohl oder gerade weil eine einheitlich-hierarchische Struktur fehlt, die ein Weltstaat bieten würde (Zürn 1998; Cutler u.a. 1999; Slaughter 2004). Ähnliches unterstellen die Befürworter von Privatisierung: Hier werden dem schwach regulierten Markt all diese Fähigkeiten zugesprochen, die sich zusammenfassend als Selbststabilisierungsmechanismen bezeichnen lassen (klassisch: Hayek 1960, 2003; Friedman 1962). Die transnationale Vernetzung privater oder zivilgesellschaftlicher Art wird ebenfalls nicht nur empirisch erforscht, sondern auch normativ als Gewinn an Selbstorganisation gestützt (vgl. zu beidem: Mau 2007; Pries 2007; Vobruba 2008, 2009; Sperling 2009; Albert u.a. 2009).

Nun haben die Teilprojekte des Sfb schon Hinweise auf Spannungen, Inkohärenzen und Kollisionen geliefert, die mit der Privatisierung einerseits und globalem Regieren andererseits einhergehen. Inkohärenzen entstehen dabei an der Schnittstelle zwischen Policies, die in jeweils funktional ausgerichteten Regimen, Unternehmen oder komplexeren institutionellen Arrangements bearbeitet werden und die daher nicht mit anderen Policies abgestimmt sind. Spannungen entstehen aber auch an der Schnittstelle zwischen den politischen Ebenen (lokale, regionale, nationale, kontinentale, globale) und den unterschiedlichen Größenklassen privater Akteure (lokal agierende Private bis global agierende Private). Wir verwenden für all diese Formen von Inkompatibilitäten, Inkohärenzen und Spannungen den Sammelbegriff Kollision.

Die These, die wir hier verfolgen, lautet: Die Instabilitäten der neuen Konstellation zerfaserter Staatlichkeit ergeben sich gerade aus diesen Kollisionen zwischen verschiedenen Regelungsebenen, Herrschaftsakteuren und Politikfeldern (Kollisionsthese). Die Gegenthese lautet: Es handelt sich jeweils nur um Unterschiede, die sich wechselseitig ergänzen und die in einen Pluralismus von Normsystemen einmünden oder gar zu Synergien führen und deshalb die neue Konstellation zerfaserter Staatlichkeit stabilisieren (Pluralismusthese). Unsere Forschungen sollen dazu beitragen, zwischen diesen beiden konkurrierenden Überlegungen empirisch begründet besser entscheiden zu können. Die in den letzten Jahren intensivierten Bemühungen, institutionellen Wandel besser zu verstehen (Streeck & Thelen 2005; Héritier 2007; Streeck 2009; Mahoney & Thelen 2010), werden wir für die umfassendere Konstellation von Staatlichkeit fortsetzen. Während in diesen jüngeren Beiträgen das Problem graduellen und nicht allein extern angestoßenen Wandels intensiv bearbeitet wird, fehlt es an einem Verständnis für die Wechselwirkungen zwischen Politikfeldern und institutionellen Regelungsbereichen und an einem Verständnis der Anstöße für Wandel, die aus der Überlagerung unterschiedlicher Kompetenzansprüche, Rechtssysteme und Handlungsfelder entstehen.

Kollision ist ein Begriff, der in der Rechtswissenschaft einen präzisen Inhalt besitzt. Er bezieht sich auf das gleichzeitige Gelten verschiedener Rechtsnormen für denselben Sachverhalt (vgl. Fischer-Lescano & Teubner 2006; Joerges & Rödl 2009). Die zunehmende Verrechtlichung im internationalen Raum, bei der sich funktional spezialisierte internationale Regime ausbilden, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass solche Kollisionen zwischen internationalen und nationalen Rechtsordnungen sowie zwischen verschiedenen internationalen Rechtsordnungen auftreten (zur rechtlichen Situation: Ruffert & Walter 2009). Diese "neuen" Kollisionsformen kommen zu den bekannten Kollisionen nationaler Rechte (insbesondere bei Auslandsberührung) hinzu. All das schafft eine Rechtslandschaft, in der etliche Beobachter die Rechtssicherheit als gefährdet ansehen, weil nicht mehr klar ist, welches Recht gilt (z.B. S. K. Schmidt 2008). In der Rechtswissenschaft ist die Frage höchst relevant, wie angesichts pluraler Rechtsordnungen mit Kollisionssituationen umgegangen wird. Hier werden auch normative Probleme der Verbürgung von Rechtsförmigkeit aufgeworfen. Hält man eine Rehierarchisierung und Vereinheitlichung der Rechtsordnungen unter einem staatsanalogen Gebilde auf Weltebene für faktisch ausgeschlossen, für normativ nicht wünschenswert oder für zeitlich nicht absehbar, dann besteht die zentrale Aufgabe darin, nach nicht-hierarchischen Formen der Kollisionsregulierung zu suchen.

Der Kollisionsbegriff wird allerdings im Sfb in der dritten Phase auch für nichtrechtliche Sachverhalte verwandt. Er bezeichnet die Überschneidung oder das höchst spannungsreiche Zusammenführen mehrerer institutioneller Bezugspunkte für ein und denselben Sachverhalt. So lässt sich von der Kollision politischer Ebenen sprechen: Die Politikwissenschaft hat – um den besonderen Charakter der EU und ihres Verhältnisses zum Nationalstaat zu erfassen – bisher meist die Bezeichnung Mehrebenenpolitik verwendet (Kohler-Koch & Eising 1999; Jachtenfuchs 2001; Hooghe & Marks 2001; Benz 2009a). Kollisionen in dem gemeinten nichtrechtswissenschaftlichen Sinn ergeben sich z.B. durch die in Mehrebenensystemen vorhandene Möglichkeit der Mehrfachadressierung – oder der Fehladressierung – von politischen Vorhaben und Forderungen. Daneben sind die Fälle funktionsbezogener Kollision zu beachten. Sie ergeben sich aus den Überlappungen und Spannungen zwischen Politikfeldern und ihren Interventionsprogrammen. Auch hier kann der Weg über mehrere Policies eingeschlagen werden, wenn man ein und dasselbe Ziel erreichen will. Kollisionen führen jedoch nicht nur zu politischen Doppelstrategien, politischen Auseinandersetzungen oder Rechtsstreitigkeiten, sie können darüber hinaus dazu beitragen, dass sich keine stabilen, selbsttragenden Strukturen herausbilden können. Kollisionen halten eine Materie ständig in Bewegung, ohne dass Mechanismen erkennbar wären, die den einmal erreichten Stand transformierter Staatlichkeit vor Ort stabilisieren könnten.

Erst in der Zusammenschau aller Teilprojekte lässt sich beurteilen, ob diese Kollisionen zu Unvereinbarkeiten führen, ob sich neue plurale Herrschaftsverhältnisse herausbilden, in denen die einzelnen Herrschaftsträger eher problemlos zusammenwirken, oder ob sich gar neue Hybridisierungen beobachten lassen, so dass Kollisionen wie Pluralisierungen in eine stärker ineinander verflochtene Architektur des Regierens einmünden (zum Begriff "hybridity" vgl. Evans 2005). Die Abschätzung von Stabilisierungstendenzen hängt daher in hohem Maße von einem Abgleich zwischen den Ergebnissen der Teilprojekte ab. Wegen der Fülle seiner Befunde in Beschreibung, Erklärung und Folgenanalyse und wegen seines hinreichend langen Untersuchungszeitraums sind dem Sfb 597 allerdings erste Aussagen möglich, die den Stabilisierungstendenzen als beobachtbaren "Kräften" der Absicherung der einmal erreichten Konstellation veränderter Staatlichkeit gelten. Die Arbeiten der dritten Phase können zu einer besseren Einschätzung der Kräfte beitragen, die auf die Stabilisierung der neuen Konstellation zielen, aber gleichermaßen auch dazu, die Stärke jener Akteure und Prozesse abzuschätzen, die eher auf eine Abkehr vom erreichten Zustand drängen.

 
   
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