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DFG-Antrag 2007-2010

Hinweis
Die im Text zitierte Literatur finden Sie im Literaturverzeichnis

Forschungsprogramm 2007-2010
Die Erklärung des Wandels von Staatlichkeit

Die Teilprojekte suchen in der zweiten Antragsphase nach Erklärungen für den in der ersten Antragsphase beobachteten Wandel von Staatlichkeit. Sie fragen:

  • Warum kommt es zu Internationalisierung oder Privatisierung, bzw. warum bleiben solche Wandlungsprozesse aus?
  • Warum erfolgen diese Wandlungsprozesse teils als Anlagerung und teils als Verlagerung?
  • Warum weitet sich der Korridor in manchen Hinsichten aus, während er sich in anderen eher verengt?

Um den Wandel von Staatlichkeit zu erklären, können sich die Teilprojekte grundsätzlich der Erklärungsangebote aus drei Literatursträngen bedienen, die für den Wandel von Staatlichkeit grundlegend unterschiedliche Diagnosen stellen.

Erstens kommen Erklärungen in Betracht, die den Wandel von Staatlichkeit auf kaum kontrollierbare strukturelle Antriebskräfte zurückführen, wonach der Staat nicht einmal mehr die Weichen für den Wandel stellen kann. In dieser Literatur wird ein massiver Wandel von Staatlichkeit diagnostiziert und darauf zurückgeführt, dass starke Antriebskräfte wie wirtschaftliche Globalisierung oder gesellschaftliche Individualisierung, Komplexitätssteigerung, Wertewandel oder demographische Alterung den Staat massiv herausfordern (u.a. Cerny 1995; Hirsch 1995; Inglehart & Welzel 2005; Kaufmann 2005; Scharpf 1987; Willke 1992). Die beobachteten Privatisierungs- und Internationalisierungsprozesse ergeben sich aus dem Staat aufgezwungenen Entwicklungen, die dieser kaum beeinflussen kann. Im Lichte dieser Erklärung erscheint der Staat als das hilflose Objekt ihm äußerlicher Antriebskräfte des Wandels.

Doch es kommen zweitens auch Erklärungen in Betracht, die strukturelle Antriebskräfte insofern als wenig dramatisch einschätzen, als der Staat diese Antriebskräfte zumeist beherrschen und somit auch die Weichen für den Wandel von Staatlichkeit jederzeit selbst stellen kann (Staat als kontrollierendes Subjekt). Hier wird darauf verwiesen, dass Antriebskräfte wie die wirtschaftliche Globalisierung, die soziale Individualisierung, die Komplexitätssteigerung, der Wertewandel oder auch die demographische Alterung nicht nur vielfach überschätzt, sondern insbesondere auch vom Staat weiter kontrolliert werden (u.a. Krasner 1999a, b, 1993; Moravcsik 2002; Pierson 1998; Thomson & Krasner 1989; James 2001, 2006), ja den Staat sogar stärken können (Lütz 1997ff.; Garrett 1995ff.; Garrett & Rodden 2003; Rodrik 1997, 1998). Die beobachteten Privatisierungs- und Internationalisierungsprozesse finden danach zwar statt, können vom Staat aber jederzeit wieder rückgängig gemacht werden. Der Staat bleibt Herr des Verfahrens und Subjekt des Wandels.

Und die Teilprojekte können sich drittens auch auf Erklärungen stützen, die den Staat weder allein als Objekt noch nur als Subjekt seiner Veränderung sehen und stattdessen versuchen, das Zusammenspiel von äußeren und inneren Veränderungskräften zu beschreiben. Manche betonen, dass der Staat zwar durch Antriebskräfte des Wandels wie Globalisierung, Individualisierung, Wertewandel, Komplexitätssteigerung oder auch demographische Alterung herausgefordert wird, aber über erhebliche Freiheitsgrade der Reaktion verfügt und die Herausforderungen möglicherweise sogar zum eigenen Nutzen instrumentalisieren kann (u.a. Ferrera & Gualmini 2000; Garrett 1998a, b, 2000; Notermans 1993; Rieger & Leibfried 2001, 2003; Swank 1998, 2002; Voigt 1993, 1996; Schuppert 2005d, c; Thurow 2004). Staatlichkeit wandelt sich zwar, aber der Staat stellt die Weichen des Wandels selber. Der Staat erscheint als Segler, der den Wind zwar nicht beeinflussen, ihn durch geschickte Segeleinstellung aber für die eigenen Zwecke nutzen kann. So hat beispielsweise Claus Offe die Privatisierung von Staatlichkeit schon frühzeitig als eine vom Staat gemachte Politik der Selbstentlastung des Staates interpretiert (Offe 1987, 317; auch Grande 1997; Grande & Risse 2000). Ähnlich erklärte Alan S. Milward (1992) die Internationalisierung von Staatlichkeit als Versuch des Nationalstaates, die eigene Funktionsfähigkeit zu retten (s. auch Moravcsik 1994, 1998; Wolf 2000; ferner zu einer Form Lütz 1997ff.; s. aber Esser 1999). Freilich kann es dem Staat bei solchen Versuchen gehen wie dem Zauberlehrling, der die Kräfte, die er rief, nicht mehr los wird und damit, ungewollt, selbst zur Antriebskraft der eigenen Veränderung wird.

Ausgangsvermutung
Die Teilprojekte werden sich in der zweiten Antragsphase mit allen drei Erklärungsangeboten kritisch auseinandersetzen. Die Ergebnisse der ersten Antragsphase legen allerdings nahe, im Staat weder ein hilfloses Objekt noch ein omnipotentes Subjekt zu sehen. Vielmehr deuten sie auf eine Erklärung hin, bei der der Staat sowohl Objekt als auch Subjekt ist – der Wandel von Staatlichkeit weder vom Staat ganz, noch von ihm gar nicht kontrolliert wird. Zum Teil sieht sich der Staat zum Wandel gezwungen, zum Teil verursacht der Staat den Wandel selber, prägt und gestaltet ihn.

Unsere Ausgangsvermutung ist daher, dass der Wandel von Staatlichkeit zumindest teilweise auch eine "Selbsttransformation des Staates" darstellt. Der Staat zählt zu den aktiven Mitspielern im Wandel von Staatlichkeit. Die Frage ist, wann er dieses Spiel wie spielt. Wann spielt er auf Verlagerung und wann auf Anlagerung, wann präferiert er Privatisierung und wann Internationalisierung, wann gibt er Entscheidungs- und wann Organisationsverantwortung ab? Dabei sind mindestens drei Formen der Selbsttransformation zu unterscheiden:

  • Die Selbsttransformation des Staates kann erstens in dem – oben bereits angedeuteten – Sinne erfolgen, dass er als Weichensteller von ihm nicht kontrollierte Antriebskräfte lenkt und kanalisiert. Dies ist zwar eine vergleichsweise schwache Form der Selbsttransformation, aber auch hier ist der Staat eben nicht nur Objekt der ihn herausfordernden Antriebskräfte, sondern er lenkt den Wandel, den er nicht verhindern kann, und bestimmt die Gestalt mit, die dieser annimmt. Der Wandel ist somit kein strukturell determinierter Anpassungsprozess, sondern Ergebnis staatlicher Entscheidungsprozesse und Institutionen. Dieser weichen Form der Selbsttransformation wird beispielsweise in den Teilprojekten von Leibfried und Obinger (C1), Rothgang (C3) oder Weymann und Martens (C4) nachgegangen. Diese Teilprojekte fragen, welchen Einfluss nationale Weichensteller wie das Wohlfahrtsstaatsregime auf die von Staat zu Staat jeweils unterschiedlichen Wandlungsprozesse bei der Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- oder Generationenpolitik haben.
  • Die Selbsttransformation des Staates kann aber zweitens auch in einem weitreichenderen Sinne dadurch erfolgen, dass der Staat nicht nur als Weiche bestehende Antriebskräfte des Wandels lenkt, sondern dass er selbst diese Antriebskräfte des Wandels in Gang setzt. Danach sind es zwar Antriebskräfte wie Globalisierung, Europäisierung, Individualisierung, Wertewandel oder Alterung, die den Wandel von Staatlichkeit verursachen, doch diese sind nicht naturwüchsig, sondern vom Staat selbst geschaffen, gefördert oder doch zumindest geduldet (vgl. Genschel 2004; Rieger & Leibfried 2001, 2003; siehe auch historisch Frieden 2006). Der Staat setzt, indem er Globalisierung fördert, Individualisierung stützt oder für bestimmte Werte wirbt, Entwicklungen in Gang, die dann – gewollt oder ungewollt, beherrschbar oder nicht beherrschbar – zur Antriebskraft des Wandels von Staatlichkeit werden. Danach folgt der Wandel nicht naturwüchsigen, sondern politisch erzeugten Antriebskräften. Diese Form der Selbsttransformation wird zum Beispiel im Teilprojekt von Genschel (D1) untersucht. Dieses Teilprojekt versucht zu zeigen, dass Staaten internationale Steuerregime zunächst begründet haben, um damit internationale Steuertatbestände zu regeln. Mit diesen Regelungen schufen die Steuerregime allerdings auch die Grundlage für den internationalen Steuerwettbewerb und erhöhten damit den Druck auf die Staaten, weitere steuerpolitische Kompetenzen zu internationalisieren, um den nachteiligen Effekten des Steuerwettbewerbs vorzubeugen.
  • Die Selbsttransformation des Staates kann aber drittens auch in dem Sinne stattfinden, als der Staat nicht nur Antriebskräfte freisetzt, die dann auf ihn einwirken, sondern selbst eine Antriebskraft des Wandels ist. Bei dieser Art der Selbsttransformation verändert der Staat sich aus eigener Initiative, ohne dass ihn starke Antriebskräfte zum Wandel zwingen würden. Danach wäre also zu vermuten, dass der Staat bestimmte Verantwortlichkeiten freiwillig an private oder aber an internationale Institutionen delegiert, so dass diese ihn beispielsweise bei der Erbringung normativer Güter entlasten. Dabei mag sich diese freiwillige Selbsttransformation des Staates dann über – gewollte oder nicht gewollte – Eigendynamiken dieser vom Staat geschaffenen Institutionen zu einer eigenständigen Antriebskraft auswachsen. Insgesamt erfolgt der Wandel von Staatlichkeit hier allerdings durch den Staat als Antriebskraft selbst. Diese besonders augenscheinliche Form der Selbsttransformation des Staates vermutet beispielsweise das Teilprojekt von Zangl (A2). Es geht davon aus, dass die zunehmende Bindung des Staates an internationales Recht auch das Resultat einer von den Staaten vorangetriebenen Vergerichtlichung internationaler Streitbeilegungsverfahren ist (Zangl 2006), die die Staaten – teils gewollt, teils ungewollt – zu einer zunehmend rechtsgebundenen Streitbeilegung anhalten können. Und auch das Teilprojekt von Falke und Joerges (A1) sieht das Eindringen internationaler Rechtsnormen in die vormals ausschließlich dem Staat vorbehaltene Sozialregulierung als Ergebnis einer durch die Staaten vorangetriebenen Handelspolitik. Um die rechtlichen Rahmenbedingungen für einen gedeihlichen internationalen Handel zu schaffen, waren sie zunehmend bereit, ihre Sozialregulierung nach internationalen Vorgaben auszugestalten. Die im Teilprojekt von Mau (D4) untersuchten Veränderungen staatlicher Grenzregime werden ebenfalls nicht nur als Reaktion auf externe Antriebskräfte verstanden, sondern als ein vom Staat selber vorangetriebener Wandel, mit dem er grenzüberschreitende Mobilität erhöhen und verbessern will.

Auf den Ergebnissen der ersten Antragsphase aufbauend, will der Sfb in der zweiten Antragsphase prüfen, in welchem Sinne sich der Wandel von Staatlichkeit auch als eine Selbsttransformation des Staates erklären lässt. Damit zielt der Sfb als Ganzes – nicht unbedingt jedes einzelne Teilprojekt – auf ein Verständnis des Wandels, das rein strukturalistische Erklärungen überwindet, um sie durch im Kern "akteurzentrierte" Erklärungen (Mayntz & Scharpf 1995; Scharpf 2000 bzw. Scharpf 1998/1997) zu ergänzen. Der Sfb will damit die Tragfähigkeit einer politischen Erklärung des Wandels von Staatlichkeit ausloten. Es geht also darum herauszufinden, wie wichtig der Staat selbst als Antriebskraft und Weichensteller für den beobachteten Wandel von Staatlichkeit ist.

Erklärungsschema
Die Ausgangsvermutung, dass es sich beim Wandel von Staatlichkeit ganz wesentlich um einen Prozess der Selbsttransformation des Staates handelt, soll der Forschungsarbeit in den Teilprojekten in ähnlicher Weise als Fluchtpunkt dienen, wie die drei Leitthesen der ersten Antragsphase. In einem ersten Schritt werden die Einzelprojekte ergebnisoffen unterschiedliche Erklärungen des Wandels von Staatlichkeit auf die von ihnen während der ersten Antragsphase beobachteten Wandlungsprozesse anwenden. Denn nur so lässt sich abschätzen, ob und inwieweit der Wandel einer Selbsttransformation des Staates geschuldet ist. Nur im Vergleich verschiedener Erklärungen kann der Beitrag beurteilt werden, den der Staat selbst zum Wandel von Staatlichkeit leistet. In einem zweiten Schritt sollen sich die Teilprojekte bei der Suche nach Erklärungen miteinander intensiv austauschen und wechselseitig voneinander lernen. Dadurch werden sukzessive und kumulativ Erklärungen generiert, die den in unterschiedlichen Teilprojekten beobachteten Wandel von Staatlichkeit verständlich machen können. Am Ende wird wahrscheinlich nicht eine übergreifende Erklärung stehen, die das Gesamtbild der Zerfaserung des DRIS vollständig aufklärt. Es dürfte aber möglich sein, zu modularen Erklärungen zu gelangen, die den Wandel von Staatlichkeit insgesamt verständlich machen und die vielfältigen Einzelaspekte des Wandels von Staatlichkeit auf möglichst einfache, allgemeine Partialerklärungen zurückführten (vgl. etwa Scharpf 2002). Im Rahmen dieser Erklärung wäre dann auch die Selbsttransformationsthese zu beleuchten.

Die Vorzüge eines solchen kumulativen Erklärungsverfahrens sind einsichtig, ebenso die damit verbundenen Schwierigkeiten. Denn gemeinhin lassen sich die Erklärungen eines bestimmten Teilprojekts nicht umstandslos auf den Erkenntnisgegenstand eines anderen Teilprojekts übertragen. Der Sfb hat diesem Problem in der ersten Antragsphase bereits dadurch entgegengewirkt, dass alle Teilprojekte einem einheitlichen Beschreibungskonzept des Wandels von Staatlichkeit folgten. Dies erleichtert den Erklärungstransfer zwischen Teilprojekten. Darüber hinaus sollen die Teilprojekte in der zweiten Antragsphase auch einem gemeinsamen Erklärungsschema folgen, welches unmittelbar an das in der ersten Antragsphase bewährte Beschreibungskonzept anschließt: Wurde dort der Wandel von Staatlichkeit im Kategorienraster von Internationalisierung und Privatisierung bzw. von Korridorerweiterung und -verengung beschrieben, sollen diese Entwicklungen in der zweiten Antragsphase im Erklärungsschema von Antriebskräften und Weichenstellern erklärt werden.

Dabei werden unter Antriebskräften solche Erklärungsfaktoren verstanden, die den Wandel von Staatlichkeit auslösen, die also dafür sorgen, dass Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse in Gang kommen. Zu den Antriebskräften gehören alle Wandlungsprozesse materieller, ideeller und institutioneller Art, die den Staat herausfordern und Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse anstossen können. (Sie sind in sozialwissenschaftlicher Begrifflichkeit unabhängige Variablen.) Als Weichensteller werden dagegen diejenigen materiellen, ideellen und institutionellen Erklärungsfaktoren bezeichnet, die dem Wandel von Staatlichkeit sein eigentümliches Gepräge geben. (Sie sind in sozialwissenschaftlicher Begrifflichkeit intervenierende Variablen.) Weichensteller erklären, warum unterschiedliche Staaten auf gleiche Herausforderungen oftmals unterschiedlich reagieren. Sie machen verständlich, warum manche Staaten stärkere Internationalisierungs- und Privatisierungsneigung zeigen als andere, warum in manchen Problemfeldern die Internationalisierung bzw. Privatisierung als Anlagerung und in anderen als Verlagerung erfolgt und warum die Internationalisierung und Privatisierung den Varianzkorridor der Ausgestaltungen von Staatlichkeit in manchen Problemfeldern verengen und in anderen verbreitern.

In unserem Erklärungssschema sollen also die Antriebskräfte in erster Linie die allgemeinen Wandlungstendenzen von Staatlichkeit erklären, während die Weichensteller vor allem die Varianzen um diese Wandlungstrends verständlich machen. Beides braucht man, um das Gesamtmuster des Wandels von Staatlichkeit zu entschlüsseln. Wichtig ist aber, dass die Unterscheidung zwischen Antriebskräften und Weichenstellern rein analytisch gemeint ist. Ob ein Erklärungsfaktor als Antriebskraft oder Weichensteller zu betrachten ist, hängt nicht von diesem Erklärungsfaktor selbst ab, sondern ausschließlich von der Funktion, die ihm bei der Erklärung zugewiesen wird. Was in einer Erklärung als Antriebskraft erscheint, kann in einer anderen Erklärung ein Weichensteller sein. Diese inhaltliche Offenheit verhindert, dass durch das Erklärungsschema selbst schon präjudiziert wird, welche Erklärungsfaktoren sich wie auf den Wandel von Staatlichkeit auswirken. Die Erklärungsfaktoren zu spezifizieren und unterschiedliche Erklärungsfaktoren zu einem Erklärungsmodell zusammenzufügen, bleibt vielmehr den einzelnen Teilprojekten überlassen. Das Erklärungsschema soll lediglich die Erklärungsarchitektur so weit standardisieren, dass Erklärungen projekt- und disziplinenübergreifend verglichen und aufeinander bezogen werden können. Es soll aber nicht selbst schon ein Erklärungsmodell des Wandels von Staatlichkeit liefern.

Antriebskräfte
In unserem Erklärungsschema werden unter Antriebskräften die Erklärungsfaktoren verstanden, die den Wandel von Staatlichkeit auslösen, weil sie bestehende Strukturen der Erbringung normativer Güter herausfordern. Als Antriebskräfte kommen alle Veränderungen der materiellen, ideellen und institutionellen Bedingungen in Betracht, unter denen Staaten operieren. Diese Bedingungen bestimmen, welche normativen Güter erbracht werden müssen, was von der Gütererbringung erwartet werden kann, wer diese normativen Güter zu erbringen vermag und wer eine veränderte Gütererbringung durchsetzen kann. Veränderungen dieser Bedingungen können deshalb dazu führen, dass bestehende Strukturen der Erbringung normativer Güter unter Anpassungsdruck geraten und dadurch einen Wandel von Staatlichkeit auslösen. Für die Erklärung ist es deshalb wichtig, die konkreten materiellen, ideellen und institutionellen Veränderungen zu identifizieren, die den in den Teilprojekten beobachteten Wandel von Staatlichkeit antreiben.

Zu beachten ist freilich, dass auch die Unterscheidung zwischen materiellen, ideellen und institutionellen Veränderungsfaktoren eine rein analytische ist. Sie steht nicht für objektiv unterscheidbare Erklärungsfaktoren, sondern für drei unterschiedliche Paradigmen sozialwissenschaftlicher Erklärungen:

  • strukturalistische Erklärungen, die sozialen Wandel oftmals vor allem auf Veränderungen in den zugrundeliegenden materiellen Bedingungen zurückführen;
  • konstruktivistische Erklärungen, die vornehmlich – oder zumindest auch – auf Veränderungen ideeller Gegebenheiten zurückgreifen; und
  • institutionalistische Erklärungen, die den Wandel insbesondere auch aus dem Wechselspiel zwischen institutionellen Strukturen und den in sie eingebundenen Akteuren rekonstruieren.

Als materielle Antriebskräfte kommen im Prinzip alle Veränderungen der wirtschaftlich und machtpolitisch relevanten Ressourcenausstattung und -verteilung innerhalb und zwischen Gesellschaften in Betracht. Dazu gehören so unterschiedliche Veränderungen wie technischer Fortschritt, wirtschaftliche Globalisierung, globale Migration, internationale Machtverschiebungen oder die demographische Entwicklung der Gesellschaft. Derartige teilweise vom Staat angestoßene, teilweise aber auch vom Staat unabhängig entstandene Veränderungen beeinflussen die materiellen Bedingungen, unter denen normative Güter erbracht werden. Sie schaffen veränderte wirtschaftliche Problemlagen (sinkende Wachstumsraten, steigende Arbeitslosigkeit, usf.), veränderte soziale Problemstellungen (wachsende kulturelle Heterogenität) oder neue sicherheitspolitische Bedrohungen (neue Kriege und neuen Terrorismus). Dadurch können bestehende Strukturen der Erbringung normativer Güter herausgefordert und Internationalisierungs- und/oder Privatisierungsprozesse angestoßen werden.

Eine für besonders viele Teilprojekte zentrale materielle Antriebskraft ist die wirtschaftliche Globalisierung, also der zunehmend grenzüberschreitende Austausch bzw. die zunehmend grenzüberschreitende Produktion von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit (u.a. Beisheim u.a. 1999; Genschel 2004; Held, Goldblatt & Perraton 1999; Held & Koenig-Archibugi 2003; Hirst & Thompson 1999; Rieger & Leibfried 2001, 2003; Zürn 1992b, 1998). Denn die wirtschaftliche Globalisierung fordert aus Sicht dieser Teilprojekte bestehende Staatsstrukturen massiv heraus. Einige Teilprojekte verweisen darauf, dass die Globalisierung den Effektivitätsverlust bestehender staatlicher Strukturen bei der Erbringung normativer Güter auslösen und so zur Antriebskraft des Wandels von Staatlichkeit werden kann. Ein derartiger Effektivitätsverlust wird beispielsweise im Teilprojekt D1 als eine mögliche Antriebskraft verstärkter Bemühungen um eine internationale Steuerkooperation untersucht. Für andere Projekte führt die Globalisierung zu einem verschärften Standortwettbewerb, der bestehende Strukturen der Erbringung normativer Güter unterminiert. So untersucht etwa Teilprojekt C1, inwieweit der durch die Globalisierung verschärfte Standortwettbewerb die Veränderungen nationalstaatlicher Wohlfahrtsregime angestoßen hat. Und wieder andere Teilprojekte deuten an, dass bestehende Strukturen der Erbringung normativer Güter angegriffen werden, weil die Globalisierung sie unter erhöhten Effizienzdruck setzt. Im Teilprojekt C6 wird jedenfalls vermutet, dass ehemals staatliche Rechnungslegungsvorschriften durch private Rechnungslegungsstandards ersetzt wurden, weil diese nicht zuletzt aufgrund der Globalisierung erhebliche Effizienzvorteile besitzen. Denn im Gegensatz zu nationalstaatlichen Rechnungslegungsstandards sind private Rechnungslegungsvorschriften erheblich einfacher global anzuwenden.

Eine weitere für einige Teilprojekte wichtige materielle Antriebskraft des Wandels von Staatlichkeit ist die Alterung der Gesellschaft, also der Sachverhalt, dass die Lebenserwartung steigt, während gleichzeitig die Geburtenrate unterhalb des Netto-Reproduktionsniveaus verharrt (Burniaux, Duval & Jaumotte 2004; Gruber & Wise 1999; Kaufmann 2005; Lynch 2006). Die damit einhergehenden Verschiebungen im intergenerativen Machtgefüge werden in einigen Teilprojekten als mögliche Antriebskraft des Wandels von Staatlichkeit untersucht. Eine derartige Erklärung wird beispielsweise im Teilprojekt von Leibfried und Obinger (C1) mit Blick auf den Wandel des Wohlfahrtsstaats insgesamt, im Teilprojekt von Rothgang (C3) in Bezug auf den Wandel staatlicher Gesundheitssysteme und im Teilprojekt von Weymann und Martens (C4) in Bezug auf den Wandel der Bildungspolitik geprüft.

Als ideelle Antriebskräfte kommen im Prinzip alle Veränderungen von politisch relevanten kognitiven und normativen Grundüberzeugungen in Betracht. Denn die Erbringung normativer Güter hängt nicht allein von materiellen Gegebenheiten, sondern auch von den kognitiven und normativen Einschätzungen dessen ab, was unter diesen Gegebenheiten politisch möglich und wünschenswert ist (u.a. Adler & Haas 1992; Goldstein & Keohane 1993a, b; Haas 1989, 1990, 1992; Hall 1993). Wenn sich diese Einschätzungen vom Staat gefördert oder unabhängig von diesem ändern, etwa weil postmaterielle Werthaltungen und postnationale Einstellungen an Boden gewinnen oder vorherrschende ökonomische, ökologische oder soziale Doktrinen sich verschieben, so kann dies die bestehenden Strukturen der Erbringung normativer Güter herausfordern. Diese erscheinen angesichts veränderter normativer oder kognitiver Grundüberzeugungen als illegitim oder ineffektiv, was dann Privatisierungs- oder Internationalisierungsprozesse auslösen kann.

Einige Teilprojekte betrachten beispielsweise die Verbreitung postmaterieller und postnationaler Werthaltungen als wichtige ideelle Antriebskraft. Danach werden politische Erwartungen einerseits immer weniger über die Befriedigung materieller Bedürfnisse definiert, sondern an postmateriellen Bedürfnissen wie Glück und Gesundheit und an postmateriellen Grundwerten wie der individuellen Selbstbestimmung oder der Gleichberechtigung ausgerichtet. Andererseits definieren sich kollektive Identitäten immer weniger ethnisch, sondern basieren vermehrt auf gemeinsam geteilten Grundwerten wie etwa individueller Selbstbestimmung oder Gleichberechtigung (van Deth 2001; Inglehart 1997; Ingelhart & Welzel 2005; Beck 1986). So fragt das Teilprojekt von Rothgang (C3) beispielsweise, inwieweit der Privatisierungstrend im Gesundheitssystem auch dadurch angetrieben wird, dass sich das Rollenbild des Patienten verändert. Da der Patient nicht mehr nur als abhängiger Schutzbefohlener, sondern vermehrt als mündiger Partner gesehen wird, gewinnt der Ruf nach mehr Selbstbestimmung auch bei der Auswahl von Leistungserbringern und Finanzierungsträgern an Gewicht, was mit einem stärker marktwirtschaftlich organisierten Gesundheitssystem eher zu vereinbaren ist und dadurch die Privatisierung fördert.

Eine weitere ideelle Antriebskraft, die in einigen Teilprojekten eine Rolle spielt, ist der Wandel wirtschaftspolitischer Doktrinen. Diese Teilprojekte nehmen an, dass sich der Wandel von Staatlichkeit auch aufgrund der schrittweisen Verdrängung nachfrageorientierter durch angebotsorientierte Doktrinen vollzieht. Denn diese legen eine stärkere Selbstbeschränkung des Staates bei der Marktsteuerung und der Marktkorrektur nahe. Dies mag gerade die Privatisierungsprozesse im Wohlfahrtsstaatsbereich mit erklären. Dementsprechend untersucht beispielsweise das Teilprojekt von Obinger und Leibfried (C1), ob der angedeutete wirtschaftspolitische Doktrinenwandel die Privatisierung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen wesentlich vorangetrieben hat und wie stark diese Antriebskraft im Vergleich zu anderen Antriebskräften wie der ökonomischen Globalisierung oder der demographischen Alterung einzuschätzen ist. Denn möglicherweise lässt sich der beobachtete Wandel des sozialen Wohlfahrtsstaats weniger auf materielle als vielmehr auf ideelle Antriebskräfte zurückführen.

Neben materiellen und ideellen Veränderungen kommen auch institutionelle Veränderungen als Antriebskräfte des Wandels von Staatlichkeit in Betracht. Denn der Staat ist zum einen selbst institutionell strukturiert und zum anderen in vielfältige institutionelle Strukturen eingebunden. Diese Strukturen prägen die Erwartungen, die an den Staat bei der Erbringung normativer Güter gerichtet werden und beeinflussen die Handlungsanreize und Identitäten der an der Erbringung normativer Güter beteiligten oder von der Erbringung normativer Güter betroffenen Akteure (Hall & Taylor 1996; March & Olsen 1989; Mayntz & Scharpf 1995; Zangl 1999; Zürn 1992a).

Häufig dürften es vom Staat selbst betriebene institutionelle Veränderungen sein, die schließlich zur Antriebskraft des Wandels werden. Insofern ist die Analyse institutioneller Antriebskräfte für die Selbsttransformationsthese von besonderer Relevanz. Die vom Staat angestoßenen Privatisierungs- und Internationalisierungsschritte können zur Ursache für weitere Privatisierungen und Internationalisierungen werden, z.B. weil sie Nebenwirkungen produzieren, auf die der Staat nur durch weitere Privatisierung und Internationalisierung zu reagieren vermag, oder weil sie pfadabhängige Entwicklungen auslösen, die ursprünglich in staatlicher Abhängigkeit gegründete private oder internationale Institutionen allmählich dessen kontrollierendem Zugriff entziehen (Arthur 1994; Greif & Laitin 2005; North 1990; Pierson 2004; Streeck & Thelen 2005).

Ein Beispiel für einen solchen durch institutionelle Eigendynamiken angetriebenen Internationalisierungsprozess bietet die Europäische Union: Die sechs Gründungsmitglieder der damaligen EWG haben dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) 1957 in den Römischen Verträgen das Recht eingeräumt, bei Klagen mit Europarechtsbezug, die ihm von nationalen Gerichten im "Vorlageverfahren" vorgelegt werden, eine autoritative Auslegung vorzunehmen. Dies war zunächst wenig dramatisch, weil die Staaten vor allem an Klagen gedacht hatten, die sich gegen europäische Institutionen richten, die ihre europarechtlichen Befugnisse überschreiten. Doch dieses Vorlagerecht hat insofern einen fundamentalen Wandel von Staatlichkeit eingeleitet, als mit dem EuGH ein Akteur geschaffen wurde, der einen Anreiz hatte, seine Befugnisse auszuweiten. Gestützt auf seine bestehenden Befugnisse im Rahmen des Vorlageverfahrens behauptete er in entsprechenden Präzedenzfällen in den 1960er Jahren die Direktwirkung und die Suprematie des Europarechts. Doch die Staaten akzeptierten zunächst weder das eine noch das andere. Vielmehr behaupteten sie, dass das nationale Recht dem Europarecht übergeordnet sei. Doch als das Vorlageverfahren von den nationalen Gerichten in den 1970er und 1980er Jahren immer häufiger genutzt wurde, nahmen die Staaten im gleichen Zeitraum schrittweise eine Position – und damit eine neue Identität – an, die es ihnen erlaubte, die Direktwirkung und dir Suprematie des Europarechts anzuerkennen. Die Begründung des EuGH durch die Staaten hat sich so über veränderte Anreizstrukturen und Sozialisationseffekte eigendynamisch in einen grundlegenden Wandel von Staatlichkeit übersetzt (Weiler 1991; Burley & Mattli 1993; Alter 2001; Stone Sweet 2004).

Ähnliche institutionelle Antriebskräfte, die auf eine Selbsttransformation des Staates verweisen, werden in einigen der Teilprojekte untersucht. So analysiert beispielsweise das Teilprojekt von Genschel (D1), wie das internationale Doppelbesteuerungsregime, indem es privaten Akteuren ermöglichte, sich nationalen Besteuerungsansprüchen durch Abwanderung zu entziehen, die Suche nach internationalen Regelungen gegen den unerwünschten Steuerwettbewerb angeregt hat. Die Internationalisierung der Steuerpolitik durch das Doppelbesteuerungsregime wird zur Ursache einer weiteren, wenn auch überaus vorsichtigen steuerpolitischen Internationalisierung. Einen ähnlich eigendynamischen Internationalisierungsprozess vermutet das Teilprojekt von Falke und Joerges (A1) als Antriebskraft hinter der zunehmend anspruchsvollen Marktregulierung in der WTO. Die Erfolge des internationalen Handelsregimes bei der Marktschaffung unterminieren die Wirksamkeit nationaler Marktregulierungen und treiben damit eine Internationalisierung derselben voran. Das Teilprojekt von Mayer (D3) untersucht, inwieweit die Delegation von Befugnissen der friedenspolitischen Intervention und Prävention an internationale Institutionen diesen ermöglicht, ihren Autonomiespielraum gegenüber der nationalen Politik aktiv zu erweitern. Und das Teilprojekt von Weymann und Martens (C4) beobachtet, wie die OECD und die EU ihre zunächst begrenzte Rolle in der Bildungspolitik systematisch ausgebaut haben und dadurch die nationale Bildungspolitik unter erheblichen Anpassungszwang setzen. In jedem dieser Teilprojekte stößt der Staat institutionelle Veränderungen an, die sich dann zur Antriebskraft des Wandels von Staatlichkeit auswachsen. Gleiches gilt für das Teilprojekt von Mau (D4), das den Einfluss supranationaler Systembildungen (NAFTA, EU) auf die Gestaltung nationaler Grenzregime untersucht.

Weichensteller
Als Weichensteller werden in unserem Erklärungsschema diejenigen Erklärungsfaktoren bezeichnet, die dem von den Antriebskräften ausgelösten Wandel von Staatlichkeit seine besondere Gestalt geben. Sie lassen Wandel zu, lenken ihn um oder bremsen ihn ab. Grundsätzlich kommen als Weichensteller ganz ähnliche Erklärungsfaktoren in Betracht wie bei den Antriebskräften, nämlich materielle, ideelle und institutionelle. Denn es sind die je eigenen materiellen, ideellen und auch institutionellen Bedingungen, die dafür verantwortlich sein können, warum dieselben Herausforderungen in verschiedenen Staaten ungleich verarbeitet werden (Hall 1997). Weichensteller wirken insbesondere, indem sie die Bedingungen der politischen Auseinandersetzungen mit bestimmen, in denen darüber gestritten wird, wie auf bestimmte Antriebskräfte reagiert werden soll. So geben sie beispielsweise manchen Akteuren in diesen Auseinandersetzungen mehr Gewicht als anderen und machen damit Wandel in die eine Richtung schwieriger als in die andere. Um den Wandel von Staatlichkeit angemessen zu verstehen, müssen deshalb neben den Antriebskräften auch die Weichensteller des Wandels analysiert werden.

Als materielle Weichensteller kommen im Prinzip alle Varianzen in der wirtschaftlichen und machtpolitischen Ressourcenausstattung und -verteilung in Betracht, die begründen können, warum in unterschiedlichen Staaten und in unterschiedlichen Politikfeldern auf gleiche Antriebskräfte ungleich reagiert wird (Korpi & Palme 2003). Das Spektrum ist breit. Wenn unterschiedliche Staaten auf Antriebskräfte des Wandels unterschiedlich reagieren, so kann dies daran liegen, dass die einen reich und die anderen arm sind, die einen technisch leistungsstark und die anderen leistungsschwach, die einen mächtig und die anderen schwach, die einen groß und die anderen klein (u.a. Katzenstein 1985; Gilpin 2001; Krasner 1991; Morgenthau 1967; G. Schneider, Barbieri & Gleditsch 2003; siehe auch historisch Williamson 2006).

Einige Teilprojekte untersuchen, wie beispielsweise Varianzen in der politischen Machtverteilung den Wandel von Staatlichkeit lenken können. So vermuten zahlreiche Teilprojekte, die sich mit Internationalisierungsprozessen befassen, dass die internationale Machtposition eines Staates ein wichtiger Weichensteller ist. In diesen Teilprojekten wird teils implizit, teils explizit angenommen, dass sich mächtige Staaten stärker gegen Internationalisierungsprozesse sträuben als weniger mächtige Staaten (so u.a. Morgenthau 1967; Kagan 2002; Waltz 1979). So vermutet etwa das Teilprojekt von Mayer (D3), dass die staatlichen Präferenzen für eine Sicherheitspolitik, die im Rahmen internationaler Institutionen wie der UNO, der NATO oder der EU verankert ist, auch von der Machtposition des jeweiligen Staates abhängen. Bei mächtigen Staaten wie den USA ist danach zu erwarten, dass sie allenfalls eine schwache Präferenz für eine von internationalen Institutionen geprägte Sicherheitspolitik haben werden, während bei weniger mächtigen Staaten eine viel stärker ausgeprägte Präferenz für eine solchermaßen international abgestützte Sicherheitspolitik erwartet wird. Doch auch einige Teilprojekte, die sich mit Privatisierungsprozessen befassen, sehen die internationale Machtposition des jeweiligen Staates als Weichensteller an. So nimmt beispielsweise das Teilprojekt von Leibfried und Obinger (C1) an, dass die Globalisierung in wirtschaftlich mächtigen Staaten wie Deutschland oder Frankreich andere Auswirkungen auf das nationale Wohlfahrtsregime hat als in kleinen Staaten wie beispielsweise Neuseeland (Schwartz 2000), Norwegen oder den Niederlanden (Visser & Hemerijck 1998; Hemerijck 2000, 2001). Insbesondere wird vermutet, dass sich die Globalisierung in kleinen Staaten viel eher in einen Wandel der staatlichen Wohlfahrtsregime übersetzt als in wirtschaftlich mächtigen Staaten (Grande 2001; Armingeon 2004, 2006).

Auch ideelle Gegebenheiten sind mögliche Weichensteller des Wandels. Die in der politischen Kultur einer Gesellschaft verankerten normativen und kognitiven Grundüberzeugungen beeinflussen, wie bestimmte Herausforderungen – Antriebskräfte – wahrgenommen und welche Reaktionen darauf als möglich und wünschenswert diskutiert werden (Goldstein & Keohane 1993b; Hall 1993; V. Schmidt 2006: 109ff.; V. Schmidt & Radaelli 2005). Wie Herausforderungen verarbeitet werden, kann beispielsweise davon abhängen, ob die politische Kultur durch individualistische oder kollektivistische, durch eher nationale oder universalistische oder durch eher isolationistische oder internationalistische Grundüberzeugungen geprägt ist. Jede dieser ideellen Varianzen mag unterschiedliche Reaktionen auf gleiche bzw. vergleichbare Antriebskräfte erklären.

Ideelle Weichensteller werden in zahlreichen Teilprojekten analysiert. Ein Beispiel ist das Teilprojekt von Nullmeier und Lhotta (B1), das von der Vermutung ausgeht, dass die Unterschiede im Wandel demokratischer Legitimationsprozesse in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Deutschland und der Schweiz auf Unterschiede in ihren politischen Kulturen, insbesondere ihren Legitimationsstilen, zurückzuführen sind. Ähnlich vermutet das Teilprojekt von Weßler (B3), dass die unterschiedlich weit gediehene Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten in verschiedenen europäischen Staaten durch die unterschiedliche Resonanzfähigkeit nationaler politischer Kulturen, insbesondere Diskurstraditionen, zu erklären ist. Und das Teilprojekt von Weymann und Martens (C4) geht davon aus, dass die von Staat zu Staat differierenden "Bildungskulturen" mit erklären, warum manche Staaten die bildungspolitischen Initiativen der EU bzw. der OECD bereitwilliger angenommen haben als andere.

Institutionen können den Wandel von Staatlichkeit nicht nur antreiben, sondern auch als Weichensteller lenken. Insbesondere Varianzen bei staatlichen Institutionen können dazu führen, dass unterschiedliche Staaten auf vergleichbare Herausforderungen bei der Erbringung normativer Güter unterschiedlich reagieren. Denn diese Institutionen können die Handlungsoptionen und Handlungsanreize ebenso wie die Interessen und Identitäten der an den politischen Auseinandersetzungen über den Wandel von Staatlichkeit beteiligten Akteure mit bestimmen (Baltz, König & Schneider 2005). Staaten mit stark pfadabhängigen Institutionen mögen deshalb auf Herausforderungen für die Erbringung normativer Güter anders reagieren als solche mit schwach pfadabhängigen Institutionen (Streeck & Thelen 2005), Föderalstaaten anders als Zentralstaaten (Rodden 2004), Konkordanzdemokratien anders als Mehrheitsdemokratien (Lijphart 1984 usf.), Demokratien mit vielen Vetopunkten anders als solche mit wenigen Vetopunkten (Tsebelis 2002), konservative Wohlfahrtsstaaten anders als sozialdemokratische (Scharpf & Schmidt 2000).

Ein Beispiel für einen in mehreren Teilprojekten thematisierten institutionellen Weichensteller sind die Veto-Punkte, die in die institutionelle Struktur eines Staates eingebaut sein können (Hallerberg & Basinger 1999; Hallerberg 2002; Immergut 1998, 1992; M.G. Schmidt 2004; Tsebelis 2000a, b, 2002; Wagschal 2006). Denn es wird vermutet, dass bei vergleichbarer Herausforderung der Wandel in Staaten mit wenigen Veto-Punkten deutlicher ausfällt bzw. eher durchzusetzen ist als in solchen mit vielen Veto-Punkten. Schließlich geben Staaten mit vielen Veto-Punkten Akteuren, die sich gegen einen Wandel sträuben, bessere Chancen, diesen dann auch tatsächlich zu verhindern, als Staaten mit wenig Veto-Punkten. Deshalb geht beispielsweise das Teilprojekt von Rothgang (C3) davon aus, dass die Reformfähigkeit eines Staates im Gesundheitssektor wesentlich von der Anzahl der in seinem System eingebauten Veto-Punkte abhängt. Aber auch die Teilprojekte von Leibfried und Obinger (C1) sowie von Weymann und Martens (C4) analysieren, ob Varianzen in der Anzahl der Veto-Punkte die Varianzen im Wandel der sozialen Sicherung bzw. der Bildungspolitik in unterschiedlichen Staaten erklären können. Auch die Kompetenzverteilung in föderalen Systemen kann mitunter als institutioneller Weichensteller wirken. So werden im neuen Teilprojekt von Schmid (A5) Veränderungen von Staatlichkeit bei der Entstehung von Privatrecht untersucht, wobei auf dem Gebiet internationaler Vertragsrechtskodifikationen für den grenzüberschreitenden Handel eine Tendenz zur Privatisierung in den Blick gerät. So hat etwa die Europäische Kommission das Projekt der Ausarbeitung eines Europäischen Zivilgesetzbuchs nach traditionellem Vorbild inzwischen aufgrund kompetenzrechtlicher Bedenken der Mitgliedstaaten zu Gunsten eines formal unverbindlichen "Gemeinsamen Referenzrahmens" aufgegeben, welcher gegenwärtig von einem privaten Netzwerk von Wissenschaftlern und Praktikern ausgearbeitet wird und sodann von Vertragsparteien als "Optionaler Code" im Wege der Rechtswahl anwählbar sein soll (v. Bar & Schulte-Nölke 2005). Auch Internationale Organisationen flüchten dort in eine gewissermaßen "private" Ausarbeitung von Soft-Law, beispielsweise bei den Unidroit Principles of International Commercial Contracts, wo die Mitgliedstaaten ihnen formal keine Kompetenzen übertragen haben.

Erklärungsschritte
Das dargelegte Erklärungsschema ist bewusst offen angelegt, so dass es mit unterschiedlichen Erklärungen des Wandels von Staatlichkeit vereinbar bleibt. Es kann und will den Teilprojekten keine Erklärung dieses Wandels vorgeben, die dann nur noch zu prüfen wäre. Die Teilprojekte sollen ergebnisoffen möglichst überzeugende Erklärungen für die von ihnen konkret beobachteten Wandlungsprozesse entwickeln, um dann gestützt auf das Erklärungsschema gemeinsam übergreifende Erklärungen zu generieren. Um zu solchermaßen übergreifenden Erklärungen des Wandels von Staatlichkeit zu gelangen, die dann auch die Beurteilung der Selbsttransformationsthese zulassen, soll auf einer zweiten Stufe überprüft werden, in wieweit sich die so in einzelnen Teilprojekten gewonnen Erklärungen auf in verwandten Projekten beobachtete Wandlungsprozesse übertragen lassen. Dies dient nicht nur dazu, die Einzelerklärungen an neuer Empirie zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren (z.B. King, Keohane & Verba 1994), sondern vor allem die Reichweite der gewonnenen Erklärungen zu erhöhen. Denn Erklärungen mit größerer Reichweite sind (vergleichbar präzisen, einfachen und plausiblen) Erklärungen geringerer Reichweite stets vorzuziehen (Elster 1998; Mayntz 2002b, a; Scharpf 2002; Schimank 1999).

Der Sfb will durch dieses zweistufige Verfahren die Grundlage für eine kollektive "inference to the best explanation" (Lipton 2004) des Wandels von Staatlichkeit legen. Am Ende wird sicherlich nicht eine beste Erklärung stehen, die das Gesamtbild der Zerfaserung des DRIS vollständig aufklärt. Anzustreben ist aber, durch dieses zweistufige Verfahren zu einem begrenzten Satz guter Erklärungen zu gelangen, der den Wandel von Staatlichkeit insgesamt verständlich macht und die vielfältigen Einzelaspekte des Wandels von Staatlichkeit auf möglichst einfache, allgemeine und plausible Erklärungsmuster zurückführt. Dabei ist anhand dieses Sets guter Erklärungen schließlich auch der Vermutung nachzugehen, dass sich der Wandel von Staatlichkeit auch als Ergebnis einer Selbsttransformation des Staates lesen lässt.

 
   
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