Forschungskonzept
Forschungsprogramm 2011-2014
Forschungsprogramm 2007-2010
Forschungsprogramm 2003-2006
Projektbereiche
Ursprungskonzeption
Erste Ergebnisse
Erklärung
  English Version  
   
 
Download
DFG-Antrag 2007-2010

Hinweis
Die im Text zitierte Literatur finden Sie im Literaturverzeichnis

Forschungsprogramm 2007-2010
Der Wandel von Staatlichkeit – erste Ergebnisse

Die allen Teilprojekten gemeinsame Konzeption für die Beschreibung des Wandels von Staatlichkeit und die drei Leitthesen haben sich in der ersten Antragsphase als ausnehmend produktiv erwiesen. So ist es erstens gelungen, die Analysen der einzelnen Teilprojekte über disziplinäre Grenzen hinweg so zu koordinieren, dass sie vergleichbare Beschreibungen von Wandlungsprozessen von Staatlichkeit produziert haben. Es ist zweitens gelungen, über disziplinäre Grenzen hinweg fruchtbare Diskussionen anzuregen, an denen oft alle Teilprojekte des Sfb oder aber Teilprojekte derselben Säule beteiligt waren. Und es ist drittens gelungen, die deskriptiven Ergebnisse der verschiedenen Teilprojekte zu einem ersten Gesamtbild des Wandels von Staatlichkeit zu integrieren. Diesem noch weiter zu konturierenden Gesamtbild zufolge erscheinen alle drei ursprünglich formulierten Leitthesen zum Wandel von Staatlichkeit überarbeitungsbedürftig:

  • Die Verlagerungsthese: Einerseits verliert der DRIS tatsächlich die früher erreichte Alleinstellung bei der Erbringung normativer Güter. Der Staat ist seit den 1970er Jahren zunehmend weniger die einzige und in manchen Bereichen noch nicht einmal mehr die wichtigste Institution für die Erbringung normativer Güter. Andererseits vollzieht sich dieser Wandel nicht, wie von uns ursprünglich erwartet, in erster Linie als Verlagerung von Verantwortung aus dem Staat heraus in neue internationale und/oder private Strukturen jenseits des Staates, sondern als Anlagerung neuer Strukturen um den Staat herum. Der Staat bleibt für die Erbringung normativer Güter zentral und scheint dabei auch vorerst unersetzlich. Aber er ist in ein zunehmend engmaschigeres Geflecht paralleler Strukturen eingebunden, die an der Erbringung normativer Güter mitbeteiligt sind.
  • Die Korridorthese: Hier gibt es gegenläufige Entwicklungen. Auf der modalen Achse scheint es tatsächlich seit den 1970er Jahren zu der erwarteten Konvergenz zu kommen. Der Korridor, innerhalb dessen Staaten bei der Erbringung normativer Güter mit unterschiedlichen Verantwortungsverteilungen zwischen staatlichen und privaten Institutionen operieren, ist enger geworden. Auf der räumlichen Achse dagegen ist eher eine Korridorerweiterung zu verzeichnen. Bei der Verteilung von Verantwortung bei der Erbringung normativer Güter zwischen nationalen und internationalen Institutionen haben sich seit den 1970er Jahren die Unterschiede zwischen den OECD-Staaten eher vergrößert.
  • Die Zerfaserungsthese: Der DRIS zerfasert, aber er bleibt zentral. Um den DRIS herum haben sich seit den 1970er Jahren zusätzliche, teils komplementäre, teils konkurrierende nicht-staatliche Strukturen angelagert, in denen Verantwortung für die Erbringung normativer Güter übernommen wird. Der DRIS zerfasert deshalb in dem Sinne, als nicht mehr alle Entscheidungs- und Organisationsverantwortung bei ihm gebündelt, sondern auf eine Vielzahl heterogener Institutionen verteilt ist. Trotzdem bleibt der DRIS für die Erbringung normativer Güter zentral, weil die neu entstehenden Strukturen in der Regel die Erbringung normativer Güter nicht von ihm unabhängig organisieren, sondern auf ihn bezogen, von ihm abhängig oder gemeinsam mit ihm. Die Letztverantwortung bleibt fast ausschließlich beim DRIS. Ohne den Staat geht deshalb wenig, allein durch den Staat geht aber auch nicht mehr viel und läuft etwas schief, so bleibt es auf jeden Fall am Staat hängen.

Im Folgenden umreißen wir die erzielten Ergebnisse anhand der drei Leitthesen.

Verlagerungsthese
Die Teilprojektergebnisse der ersten Antragsphase zeigen, dass Verantwortung bei der Erbringung normativer Güter seit den 1970er Jahren tatsächlich internationalisiert und privatisiert worden ist. Die Strukturen, in denen normative Güter erbracht werden, sind nicht mehr alle staatlich. Die Teilprojektergebnisse zeigen aber auch, dass sich dieser Wandel nicht in erster Linie durch die Verlagerung von Verantwortung aus dem Staat auf nicht-staatliche Strukturen vollzogen hat, sondern durch die Anlagerung neuer Strukturen der Verantwortung um den Staat herum.

Internationalisierung und Privatisierung
Die meisten Teilprojekte bestätigen, dass Verantwortung für die Erbringung normativer Güter seit den 1970er Jahren internationalisiert und/oder privatisiert worden ist. Sie konzentriert sich nicht mehr nur in nationalstaatlichen Institutionen, sondern "siedelt" sich zunehmend auch in privaten und internationalen Strukturen an. Der Staat hat "Gesellschaft bekommen".

In allen vier Dimensionen von Staatlichkeit lassen sich bedeutsame Internationalisierungsprozesse ausmachen: Die Teilprojekte zur Rechtsstaatlichkeit (A-Säule) zeigen, dass der Staat nicht mehr einzige Rechtsquelle und einziger Rechtsgarant ist. So werden, wie das Teilprojekt von Falke und Joerges (A1) zeigt, selbst vormals dem Staat überlassene Rechtsbereiche, wie die vom internationalen Handel tangierten Umwelt- und Verbraucherschutzbelange, nicht mehr allein durch nationales Recht, sondern zunehmend durch internationales und europäisches Recht geregelt. Die EG ist bereits früh in diese Rechtsbereiche eingedrungen und hat mit ihrem Primärrecht, dem Sekundärrecht und dessen Implemenation ein nahezu flächendeckendes Regelwerk erarbeitet. Die Übereinkommen der WTO haben eher mittelbare Auswirkungen in diesen Rechtsbereichen; Ausnahmeklauseln erlauben den Mitgliedern sozialregulatorische Maßnahmen, binden diese aber an bestimmte Voraussetzungen wie das Diskriminierungsverbot oder das Verhältnismäßigkeitsgebot. Darüber hinaus zeigen die Teilprojekte von Falke und Joerges (A1) und Zangl und Zürn (A2), dass das internationale Recht nicht nur in neue Rechtsbereiche eindringt, sondern dabei auch eine neue Rechtsqualität annimmt: Der Staat ist immer weniger in der Lage, sich internationalen Rechtsnormen zu entziehen, auch wenn sie mit den "nationalen Interessen" kollidieren. Denn internationale Institutionen wie die WTO haben in einigen Rechtsbereichen, etwa über ihre gerichtsähnlichen Streitbeilegungsverfahren, eine Infrastruktur für die Rechtswahrung geschaffen, die alle Staaten – mächtige wie weniger mächtige – zunehmend wirksam auf internationales Recht verpflichtet. Wie das Teilprojekt von Winter (A3) zeigt, sind Staaten ferner nicht mehr die alleinige internationale Rechtsquelle, sondern transnationale Institutionen entwickeln zunehmend eine von den Staaten unabhängige Rechtsschöpfung.

Auch die Legitimations-Teilprojekte (B-Säule) sind wichtigen Internationalisierungsprozessen nachgegangen. Sie zeigen insbesondere, dass an internationale Institutionen verstärkt Legitimationsforderungen gestellt werden, und die Legitimation des Regierens in solchen Institutionen nicht mehr ausschließlich indirekt und vermittelt durch die an ihnen beteiligten Staaten erfolgt. Doch die Voraussetzungen dafür, dass die Legitimationsstandards nationalstaatlicher Demokratie auf die inter- oder supranationale Ebene übertragen werden können, sind nicht schon zwingend gegeben. So machen die Ergebnisse des Teilprojekts von Peters und Weßler (B3) deutlich, dass die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit, die für eine demokratisch deliberative Legitimation des Regierens notwendig ist, sich zwar jenseits des Staates langsam zu entwickeln beginnt, dass aber selbst in der EU noch keine genuin transnationale Öffentlichkeit entstanden ist, die der nationalstaatlichen Öffentlichkeit entsprechen könnte. Immerhin scheinen die nationalen Öffentlichkeiten aber dem tatsächlich bedeutsamer werdenden Regieren in der EU vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken. Darüber hinaus zeigen die Teilprojekte von Zürn und Mayer (B4) und von Nanz und Steffek (B5), dass auch in anderen internationalen Institutionen die Legitimierung des Regierens über verschiedene proto-demokratische Legitimierungsprozesse und nicht mehr ausschließlich über den Staat verläuft. Beispielsweise haben sich, wie das Teilprojekt von Nanz und Steffek (B5) unterstreicht, zahlreiche internationale Institutionen für eine verbesserte zivilgesellschaftliche Beteiligung geöffnet. Dies bedeutet zwar keine demokratische Kontrolle, kann aber dazu beigetragen haben, dass sich Staaten vermehrt genötigt sehen, ihre Politiken in internationalen Institutionen nicht mehr nur vor der nationalen Öffentlichkeit mit Verweis auf das partikulare nationale Interesse zu rechtfertigen, sondern sie auch gegenüber anderen Nationalstaaten unter Verweis auf universelle demokratische bzw. liberale Werte zu legitimieren.

Die Teilprojekte zum Wohlfahrtsstaat (C-Säule) konnten keine raumgreifende Internationalisierung von Verantwortung ausmachen. Trotzdem zeigen auch diese Teilprojekte, dass klassische wohlfahrtsstaatliche Funktionen wenn schon nicht in internationalen Institutionen erbracht, so doch dort koordiniert und in der Politikentwicklung gebündelt werden. Das gilt am ausgeprägtesten innerhalb der EU, etwa für bestimmte Aspekte der vom Teilprojekt von Rothgang u.a. (C3) untersuchten Gesundheitspolitik. Obwohl die EU nur über eingeschränkte direkte Kompetenzen in der Gesundheitspolitik verfügt, ergeben sich aus den Grundfreiheiten und dem Wettbewerbsrecht doch erhebliche Restriktionen für die nationale Gesundheitspolitik. Ähnliches lässt sich in abgeschwächter Form selbst für internationale Institutionen wie die OECD sagen. Diese Einrichtungen haben sich in den letzten Jahrzehnten insoweit "domestiziert", als sie sich Themen wie der Gestaltung von Gesundheits- und Bildungssystemen sowie Rentenreformen und der Privatisierung der Daseinsvorsorge angenommen haben (Sfb-Arbeitspapier Zohlnhöfer & Obinger 2005). So zeigt das Teilprojekt von Weymann und Martens (C4), dass Bildungspolitik nicht mehr ausschließlich national von Staaten geprägt, sondern von internationalen Institutionen wie der EG, aber auch der OECD mitbestimmt wird. Und das mitberichtete Teilprojekt von Zimmermann (C6) demonstriert, wie internationale und private Institutionen für die unternehmerische Rechnungslegung mitverantwortlich geworden sind. Nicht mehr allein die einzelnen Staaten legen die Rechnungslegungsstandards fest, sondern auch private Standardsetzer und internationale Institutionen wie die EU.

Selbst in den Ressourcen-Teilprojekten (D-Säule) lassen sich bemerkenswerte Internationalisierungsprozesse ausmachen. Wie das Teilprojekt von Genschel (D1) verdeutlicht, bleibt zwar das staatliche Steuermonopol formal unangetastet, doch faktisch wird es zunehmend durch internationale Regelungen eingeschränkt. Denn der Staat unterliegt bei der Steuergesetzgebung und in der Steuerverwaltung vermehrt europäischem Recht und international vereinbarten Regelungen. Darüber hinaus wird, wie die Teilprojekte von Jachtenfuchs (D2) und von Senghaas, Schneckener und Mayer (D3) herausarbeiten, auch das staatliche Gewaltmonopol vermehrt durch die Regelungen internationaler Institutionen eingehegt. So sind parallel zum nationalen Militär internationale Eingreiftruppen entstanden, die die internationale Gewaltausübung des Staates verändern – zumal diese zunehmend in die Regelungen internationaler Institutionen wie der EU und der NATO, aber auch der UNO eingebettet sind.

In den vier Dimensionen von Staatlichkeit wurden neben der Internationalisierung auch bedeutende Privatisierungsprozesse nachgezeichnet: Wie die Rechts-Teilprojekte zeigen, machen diese auch vor der Rechtsdimension nicht halt. Das Teilprojekt von Winter (A3) zeigt, dass nicht-staatliche Regelungen zunehmend neben das formale Recht der Staatenwelt treten. Diese nicht-staatlichen Regelungen entstammen beispielsweise der Selbstregulierung privater Akteure. Die formale Rückbindung der entstehenden Regelungen an das staatliche Recht wird dabei immer prekärer. Das Teilprojekt von Gessner (A4) stellt dar, wie sich gerade für internationale Handelsgeschäfte private bzw. gesellschaftliche Äquivalente zur traditionell staatlich verbürgten Rechtssicherheit entwickelt haben. So entwickelten sich in internationalen Branchen, wie z.B. im Holzhandel, netzwerkartige Strukturen, in denen autonome "Rechtsnormen" (lex mercatoria) wirksam sind, die im Streitfall durch eine private Gerichtsbarkeit ausgedeutet werden. International tätige Anwälte ermöglichen durch Aushandlung hochkomplexer Verträge grenzüberschreitende Austauschprozesse, die staatlich nicht gewährleistet werden können. Ebenso entwickeln sich in langfristigen Geschäftsbeziehungen relationale Mechanismen zwischen den beteiligten Unternehmen, die einen Rückgriff auf staatliches Recht verzichtbar machen.

Die Privatisierung macht sich, den Legitimations-Teilprojekten zufolge, auch in dieser Dimension bemerkbar. Zwar führt die Schwächung des Parlaments als Zentralinstanz zur Interessenrepräsentation und zur Steuerung staatlicher Administration nicht zu einer umfassenden Privatisierung von Legitimationsprozessen. In dem Maße, in dem nicht-staatliche Instanzen – Expertengremien oder Verbände – zu Trägern der Politikgestaltung werden, sind sie aber zunehmend anspruchsvollen Legitimationsanforderungen ausgesetzt. So unterstreicht das Teilprojekt von Zürn und Mayer (B4), dass die Steuerung des Internet durch private Institutionen wie ICANN zu massiven Legitimationsdefiziten geführt hat, denen zumindest in einigen Bereichen dadurch begegnet wurde, dass Internetnutzer in die Entscheidungsfindung bei den zuständigen Institutionen eingebunden wurden. Das heißt, ICANN hat versucht, sich eigene Legitimationsquellen zu erschließen, nicht zuletzt um dem Ruf nach einer staatlichen Legitimation zuvorzukommen. Allerdings reichen diese neuen Beteiligungsformen für die Zivilgesellschaft nicht an die direktdemokratischen oder deliberativen Visionen heran, die mit dem Durchbruch des Internet oftmals prognostiziert wurden. Daher ist hier – wie auch in anderen Bereichen der Internetregulation – in jüngster Vergangenheit sogar wieder eine steigende Bedeutung von Staaten und internationalen Institutionen wie den Vereinten Nationen als Legitimationsstifter zu beobachten.

Die Wohlfahrts-Teilprojekte erwarteten deutliche Privatisierungsprozesse. Denn zweifellos hat der Staat in den vergangenen beiden Dekaden zahlreiche Wohlfahrtsaufgaben im Bereich der Daseinsvorsorge privatisiert, so etwa Telekommunikation, Postwesen, Müllentsorgung oder Wasser-, Strom- und Gasversorgung. Auch das Teilprojekt Zimmermann (C6) hat eine deutliche Privatisierung eines bislang staatlich regulierten Aufgabenfeldes, nämlich der Rechnungslegung beobachtet. Und bei der Bildungspolitik zeigen sich ebenfalls, so das Teilprojekt von Weymann und Martens (C4), Ansätze einer Privatisierung beispielsweise durch die Einführung von Studiengebühren an Universitäten. Die übrigen Wohlfahrts-Teilprojekte (C1, C3), haben dagegen mit Blick auf die Kernbereiche des Wohlfahrtsstaates kaum nennenswerte Privatisierungsprozesse identifiziert. Sie beobachten sogar einige nicht unbedeutende Verstaatlichungsprozesse. So geht eine Privatisierung der Finanzierung und Leistungserbringung im Gesundheitswesen mit einer stärkeren Regulierung der privaten Akteure einher (C1). Ebenso korrespondiert der fast überall zu beobachtende Ausbau von privaten Vorsorgeformen in der Alterssicherung nicht nur mit einer steigenden staatlichen Regulierung in diesem Bereich, sondern in einigen Staaten auch mit einer verstärkten Staatsintervention im Bereich des Familienlastensausgleichs oder einer Kollektivierung des Pflegerisikos, die Rückwirkungen auf die Alterssicherung haben (C3).

Die Ressourcen-Teilprojekte schätzen die Privatisierung in ihrer Dimension als insgesamt schwach ein. Bei den im Teilprojekt von Genschel (D1) untersuchten Steuern zeigt sich kein Privatisierungstrend; allenfalls die privatisierte Eintreibung von Straßennutzungsgebühren scheint hier erwähnenswert. Bei der im Teilprojekt von Senghaas, Schneckener und Mayer (D3) analysierten internationalen Gewaltanwendung lassen sich hingegen zumindest insofern Privatisierungstendenzen ausmachen, als private Sicherheitsdienste national wie international an Bedeutung gewinnen. In diesem Teilprojekt wird darauf verwiesen, dass gerade in der "weicheren" Sicherheitspolitik, in der militärische Ressourcen nicht im Vordergrund stehen, die Rolle von Privatakteuren vor allem in Gestalt von Nichtregierungsorganisationen in den 1990er Jahren deutlich zugenommen hat. So beauftragen Staaten, insbesondere aber auch internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen entsprechende Nichtregierungsorganisationen beispielsweise mit Präventionsmaßnahmen zur Vermeidung der gewaltsamen Konflikteskalation in dafür anfälligen, schwachen Staaten. Auch arbeiten sie gemeinsam mit ihnen in Friedenskonsolidierungsmissionen an der Stabilisierung von kriegszerstörten Staaten.

Einen ganz eigentümlichen Wandel von Staatlichkeit beobachten wir dort, wo sich Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse miteinander verbinden. Mit Blick auf die Rechtsdimension wird eine solche gekoppelte Internationalisierung und Privatisierung im Teilprojekt von Winter (A3) beschrieben. Danach sind in vielen Rechtsbereichen emergente Regelwerke gesellschaftlicher Institutionen – zwar nicht formal, aber faktisch – zu einer von internationalen Institutionen genutzten Rechtsquelle geworden. Das heißt, dort, wo staatlich gesetztes Recht nicht greift, legen private und internationale Institutionen Rechtsvorschriften fest, denen sich die Staaten, obwohl sie selten an der Rechtsetzung beteiligt sind, oftmals kaum mehr entziehen können. Der Staat ist zwar formal noch die zentrale Rechtsquelle, doch faktisch wird das Recht ohne ihn und an ihm vorbei – oftmals von ihm dabei sogar gefördert, zumeist jedoch geduldet – geschaffen. Derartig gekoppelte Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse finden sich auch bei der im Teilprojekt von Falke und Joerges (A1) beschriebenen Sozialregulierung der für den internationalen Handel relevanten Gesundheitsschutzbelange. Für die Lebensmittelsicherheit erarbeitet die Codex-Alimentarius-Kommission unter Beteiligung privater Akteure internationale Mindeststandards. Die Staaten müssen diesen Standards nicht folgen. Doch nur wenn ihre Standards denen der Codex-Alimentarius-Kommission entsprechen, können diese in der WTO nicht als ungerechtfertigte Handelsbarriere angegriffen werden. Zwar kann jeder Staat nach WTO-Recht anspruchsvollere Standards erlassen, er muss diese dann aber wissenschaftlich begründen können. Der Staat kann also seine sozialregulatorischen Anliegen nur im Rahmen der transnationalen Codex-Alimentarius-Kommission verfolgen.

Doch auch in der Legitimationsdimension gibt es für gekoppelte Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse in einzelnen Teilprojekten Beispiele. So beschreibt etwa das Teilprojekt von Zürn und Mayer (B4), wie sich die internationale Verwaltung von Internetadressen zunächst im Rahmen einer privatrechtlichen Institution, dem ICANN, entwickelte, die sich eigene Legitimationsquellen erschloss. Beim UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft gewann dann mit den Vereinten Nationen eine internationale Institution für die globale Internetregulation zentrale Bedeutung. Die Diskussion darüber, welches die legitimere Institution ist, wird uns weiter begleiten. Schon heute ist deutlich, dass es einzelnen Staaten jenseits dieser internationalen (UNO) und privatrechtlichen (ICANN) Institutionen kaum noch möglich sein wird, eine eigenständige nationale Internetregulierung zu legitimieren.

Auch bei wohlfahrtsstaatlichen Interventionen lassen sich gekoppelte Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse ausmachen. Das Teilprojekt von Zimmermann (C6) zeigt, dass die Regelungen für die privatwirtschaftliche Rechnungslegung, die heute teilweise durch internationale Institutionen festlegt werden, faktisch durch private Standardsetzungsagenturen vorgegeben sind, ohne dass der einzelne Staat darauf auf direktem Wege viel Einfluss nehmen könnte. Ein weiteres Beispiel bietet das Teilprojekt von Weymann und Martens (C4). Es verdeutlicht, dass in der EU private Institutionen Standards für Bildungseinrichtungen festlegen, die im Rahmen des Bologna-Prozesses von allen Staaten anerkannt werden. Selbst in Ressourcen-Teilprojekten lassen sich gekoppelte Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse aufspüren. So macht das Teilprojekt von Senghaas, Schneckener und Mayer (D3) darauf aufmerksam, dass die Vereinten Nationen in Friedenssicherungseinsätzen vielfach in Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen Standards – etwa in der Minenräumung – entwickelt haben, die nun auch allgemein verbindlich für staatliche Akteure sind.

Anlagerung statt Verlagerung
Wenngleich zentrale Verantwortlichkeiten bei der Erbringung normativer Güter seit den 1970er Jahren erwartungsgemäß internationalisiert und privatisiert wurden, verlief dieser Wandel doch in anderen Bahnen, als von uns ursprünglich vermutet. Der Wandel vollzog sich weniger als Verlagerungsprozess, denn als Anlagerungsprozess. Die meisten der angesprochenen Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse vollziehen sich nicht so, dass der Staat – wie vom Verlagerungsbegriff suggeriert – an Verantwortung verliert, was private oder internationale Instanzen an Verantwortung für die Erbringung normativer Güter gewinnen (Nullsummenlogik). Typisch ist vielmehr, dass diese Instanzen mehr Verantwortung gewinnen als der Staat verliert. Internationalisierung und Privatisierung bedeuten also nicht, dass private und internationale Institutionen an die Stelle des Staates treten. Sie treten vielmehr neben ihn. Verantwortlichkeit für normative Güter wandert weniger aus dem Staat aus als sich vielmehr um den Staat herum in neuen Parallelstrukturen zusätzlich anzulagern (Positivsummenlogik). In diesen Strukturen wird dann gemeinsam mit dem Staat, unabhängig von ihm und teilweise sogar in Konkurrenz zu ihm die Erbringung normativer Güter organisiert. Oftmals sind solche Anlagerungsprozesse politisch einfacher durchzusetzen als entsprechende Verlagerungsprozesse, gerade weil der Staat Verantwortung nicht unmittelbar abtreten muss. Dennoch verändert sich aber die Verantwortungsverteilung. Dies gilt insbesondere dann, wenn die neuen Strukturen ihre Verantwortung schrittweise ausdehnen können.

Beispiele für Internationalisierung durch Anlagerung finden sich in allen vier Dimensionen von Staatlichkeit. In der Rechtsdimension zeigt beispielsweise das Teilprojekt von Zangl und Zürn (A2), dass zu der inneren Rechtsstaatlichkeit, also der Bindung des Staates an sein eigenes Recht, eine verstärkte äußere Rechtsherrschaft hinzutritt, also eine vermehrte Bindung des Staates an internationales Recht, so dass hier zusätzlich Rechtssicherheit entsteht. Ähnlich lässt sich in der Legitimationsdimension die Internationalisierung von Öffentlichkeit interpretieren, die das Teilprojekt von Peters und Weßler (B3) untersucht. Sie schafft die Voraussetzung einer besseren Legitimation internationalen Regierens, ohne die nationalen Legitimationsgrundlagen anzugreifen oder zu schwächen. Vielmehr wird die vormals ausschließlich nationale Legitimation des Regierens durch nationale Öffentlichkeiten langsam und zögerlich durch Legitimation per internationalisierter Öffentlichkeit ergänzt und verstärkt. Dasselbe kann man in der Interventionsdimension über die Internationalisierung wohlfahrtsstaatlicher Interventionen sagen. Die im Teilprojekt von >Weymann und Martens (C4) thematisierte Internationalisierung der Bildungspolitik deutet nicht darauf hin, dass nationale Bildungspolitik zwingend an Bedeutung verliert; sie gewinnt vielmehr eine internationale Dimension. Und auch die Internationalisierung der Ressourcenkontrolle vollzieht sich weithin durch Anlagerung. So dient beispielsweise das im Teilprojekt von Genschel (D1) untersuchte internationale Regime der Doppelbesteuerungsverträge nicht dazu, nationales Steuerrecht zu ersetzen, sondern es im Hinblick auf transnationale Besteuerungstatbestände zu koordinieren. Es geht um eine Zusatzleistung, nicht um eine Ersatzleistung. Und das Teilprojekt von Senghaas, Schneckener und Mayer (D3) zeigt, dass sich im Rahmen internationaler Organisationen Strukturen internationaler Sicherheitspolitik entwickeln, die über das hinausgehen, was einzelne Staaten – abgesehen von den USA – bisher allein zu gestalten imstande waren. So wären friedenserhaltende und friedensschaffende Missionen wie etwa in Mazedonien und der Elfenbeinküste ohne die Unterstützung internationaler Organisationen wie NATO, EU und UNO nicht möglich.

Dagegen finden sich in den verschiedenen Teilprojekten des Sfb vergleichsweise wenige Beispiele für eine Internationalisierung durch Verlagerung. Das Teilprojekt von Falke und Joerges (A1) liefert bei der untersuchten Sozialregulierung jedoch solche Beispiele für Verlagerung. Das WTO-Recht stellt danach grundsätzliche Regeln dafür auf, wie für den internationalen Handel relevante nationale Regulungen von Umweltschutzbelangen zu begründen sind. In der Festlegung des Schutzniveaus bleiben die Staaten zwar weitestgehend frei. Staatliche Entscheidungskompetenzen werden also nicht umfassend auf die WTO übertragen, wohl aber müssen vom Staat bestimmte absolute Verbote beachtet werden. Ein anderes Beispiel bietet die im Teilprojekt von Genschel (D1) untersuchte europäische Steuerharmonisierung. Auch hier werden vormals getrennt auf nationaler Ebene getroffene Entscheidungen auf die internationale Ebene verlagert. Der nationale Gesetzgeber verliert Entscheidungsmacht über bestimmte steuerpolitische Festlegungen, die nur noch von der EG getroffen werden können, etwa hinsichtlich der Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer. Ähnliches gilt für bestimmte Bereiche der Sozialpolitik, in der etwa verbindliche Diskriminierungsverbote des Europarechts eine Bevorzugung der eigenen Staatsangehörigen verhindern und die staatliche Freiheit bei der organisatorischen Gestaltung von Sozialleistungen einschränken.

Auch bezogen auf die Privatisierung finden die meisten Teilprojekte Wandel durch Anlagerung statt Wandel durch Verlagerung. In der Rechtsdimension liefert das Teilprojekt von Gessner (A4) ein Beispiel für staatsfrei verbürgte Rechtssicherheit in Gestalt von privaten Institutionen wie Branchenverbänden, die die Rechtssicherheit internationaler Handelsgeschäfte garantieren. Diese neu entstehenden Strukturen privat geschaffener Rechtssicherheit untergraben aber nicht die durch den Staat verbürgte Rechtssicherheit, sondern verstärken sie eher. Ähnlich sieht es in der Legitimationsdimension mit der privatisierten Legitimation einer Regulierung des Internet aus, die das Teilprojekt von Zürn und Mayer (B4) untersucht hat. Da sich der Staat anfänglich kaum um die Regulierung des Internets kümmerte, sprangen private Institutionen in die Bresche. Die Legitimierung der von diesen Institutionen erlassenen kollektiv verbindlichen Regelungen erfolgt zwar am Staat vorbei bzw. ohne den Staat, aber die staatliche Legitimierungsfunktion wird dadurch nicht berührt; sie verliert lediglich an Exklusivität. Ähnliches lässt sich in der Interventionsdimension für die Privatisierung von Wohlfahrtsleistungen sagen: Der Staat bindet hier private Institutionen an sich, um seinen Wohlfahrtsfunktionen besser nachkommen zu können, doch diese ersetzen ihn dabei nicht. Er nimmt sie vielmehr in Dienst und behält sich ihre "regulative" Kontrolle vor. Dieselbe Gestalt nimmt dort, wo sie stattfindet, auch die Privatisierung der Ressourcenkontrolle an. Wie beispielsweise das Teilprojekt von Senghaas, Schneckener und Mayer (D3) unterstreicht, spielen für EU und UNO private Akteure etwa in der Konfliktprävention als Beratungsinstanzen eine Rolle. Implementationsaufgaben im Bereich Entwicklungshilfe und strukturelle Konfliktprävention werden an private Akteure delegiert, weil den Organisationen die administrativen Kapazitäten fehlen, um diesen Aufgaben selbst nachzukommen.

Dagegen finden die verschiedenen Teilprojekte des Sfb kein Beispiel für Privatisierung durch Verlagerung. Am nächsten kommt diesem Modus des Wandels noch die informelle Rechtsetzung durch private bzw. gesellschaftliche Institutionen, wie sie etwa das Teilprojekt von Winter (A3) mit Blick auf die internationale Chemikalienregulierung beschreibt. Danach ist staatliche Gesetzgebung zwar formal weiterhin die zentrale Rechtsquelle, doch kann sie die Rechtsetzung oftmals nicht mehr wirklich autonom vornehmen. Vielmehr erscheint ihre Rechtsetzungstätigkeit vielfach nur noch als ein "Absegnen" von Regelungen, die private und gesellschaftliche – insbesondere transnationale – Institutionen entwickelt haben. Hier wird also die staatliche Rechtsetzung partiell durch private bzw. gesellschaftliche Rechtsetzung ersetzt. Eine ähnliche Entwicklung findet das Teilprojekt von Zürn und Mayer (B4) in der Datenschutzregulierung im Internet: Der Staat gibt die Grundprinzipien vor, während die Instrumente ihrer Sicherung weitgehend in privater Selbstregulierung entwickelt und vom Staat nur noch zertifiziert werden. Eine reine, staatsfreie Selbstregulierung liegt jedoch nicht vor und insofern auch keine reine Form von Privatisierung durch Verlagerung.

Die beschriebenen Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse deuten insgesamt darauf hin, dass es einen flächendeckenden Wandel von Staatlichkeit gibt, der sich auf alle vier Dimensionen von Staatlichkeit bezieht. Dabei ist der Wandel in der Rechtsdimension besonders ausgeprägt. Hier ist es zu sehr weit reichenden Internationalisierungs- und Privatisierungsprozessen gekommen. Dagegen bleiben die Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse in der Legitimations-, Interventions- und Ressourcendimension deutlich zurück. Insbesondere in der Wohlfahrtsdimension geht die Privatisierung weniger weit als erwartet. Dafür aber ließen sich in der Ressourcendimension unerwartet weit reichende Internationalisierungsprozesse beobachten.

Korridorthese
Die Teilprojektergebnisse der ersten Antragsphase bestätigen, dass die Internationalisierung und Privatisierung von Verantwortung bei der Erbringung normativer Güter den Korridor möglicher Organisationsformen von Staatlichkeit verändert haben. Sie zeigen aber, dass diese Entwicklungen nicht zu einer die beiden untersuchten Achsen übergreifenden Konvergenz geführt haben. Während sich der Korridor auf der räumlichen Achse zu erweitern scheint, deutet auf der modalen Achse manches auf eine Korridorverengung hin.

Korridorerweiterung auf der räumlichen Achse
Auf der räumlichen Achse beobachten wir eine divergente Internationalisierung der Verantwortung bei der Erbringung normativer Güter. Zwar ist heute in praktisch allen OECD-Staaten die Verantwortung für die Erbringung normativer Güter in allen vier Dimensionen von Staatlichkeit stärker internationalisiert als sie es in den 1970er Jahren war, doch zugleich haben manche Staaten diese Verantwortung erheblich schneller internationalisiert als andere. Insbesondere ist die Internationalisierung von Verantwortung in westeuropäischen Staaten weiter fortgeschritten als etwa in den nordamerikanischen Staaten. Während in Europa auch die mächtigen Staaten wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien internationale Institutionen stützen, sind die USA als der weltweit mächtigste Staat gegenüber internationalen Institutionen erheblich zurückhaltender. Entgegen weit verbreiteter Ansicht sind die USA gegenüber internationalen Institutionen heute zwar nicht ablehnender als früher. Wie die meisten europäischen Staaten sind sie heute stärker in internationale Institutionen eingebunden als noch vor drei Jahrzehnten. Doch da ihre Internationalisierung verglichen mit den meisten europäischen Staaten erheblich langsamer vorangeschritten ist, haben wir es mit einer divergenten Internationalisierung zu tun.

Dies zeigen letztlich alle Teilprojekte, die die Internationalisierung in europäischen Institutionen, insbesondere der EU, mit der in transatlantischen (etwa NATO oder OSZE) und/oder globalen Institutionen (wie der UNO oder der WTO) vergleichen. Diese Teilprojekte unterstreichen, zunächst wenig überraschend, dass die Internationalisierung in der EU in denjenigen Bereichen heute erheblich weiter vorangeschritten ist, in denen die EG bereits in den 1970er Jahren weiter integriert war als entsprechende transatlantische bzw. globale Institutionen. So macht das Teilprojekt von Falke und Joerges (A1) deutlich, dass die Sozialregulierung im Rahmen der WTO zwar, verglichen mit der EG, erheblich weniger internationalisiert ist, sich der Sache nach aber doch stetig weiter, wenn auch in anderen Formen, international ausbreitet. Darüber hinaus unterstreichen die Arbeiten verschiedener Teilprojekte auch, dass die Internationalisierung in der EU heute bemerkenswert weit fortgeschritten ist und zwar zum Teil auch in Bereichen, in die die EU in den 1970er Jahren noch gar nicht eingedrungen war. Wie das Teilprojekt von Weymann und Martens (C4) verdeutlicht, hat die Bildungspolitik in der EU eine rasche Internationalisierung erfahren. Die EU hatte in der Bildungspolitik bis in die 1990er Jahre hinein zwar kaum Kompetenzen, konnte sich aber durch den Bologna-Prozess wichtige koordinierende Kompetenzen aneignen. Die OECD hingegen war zwar schon viel früher mit Bildungspolitik befasst, avancierte aber erst mit der PISA-Studie zumindest im Bereich der Bildungsindikatoren zur wichtigsten internationalen Institution. Das Teilprojekt von Senghaas, Schneckener und Mayer (D3) macht deutlich, dass im Laufe der 1990er Jahre mit Sicherheit und Verteidigung zwei völlig neue Politikfelder zum Aufgabenbereich der EU hinzukamen, woraus sich deutliche Anzeichen für Internationalisierung auch im sicherheitspolitischen Bereich ergeben. Das Teilprojekt von Genschel (D1) zeigt, dass das globale Regime der Doppelbesteuerungsabkommen zwar viel älter ist als das EU-Steuerregime, dass das EU-Regime die nationale Steuerpolitik aber trotzdem viel stärker beeinflusst als das globale Regime.

Korridorverengung auf der modalen Achse
Auf der modalen Achse beobachten die Teilprojekte dagegen eher eine konvergente Entwicklung. In praktisch allen Staaten der OECD-Welt ist es während der letzten Jahrzehnte in allen vier Dimensionen von Staatlichkeit zu wichtigen Privatisierungen gekommen. Dabei dürfte zwar die Privatisierung in den angelsächsischen Staaten – insbesondere in den USA, aber auch in Großbritannien – weiter fortgeschritten sein als in den kontinentaleuropäischen Staaten wie Deutschland und Frankreich. Insgesamt gesehen bewegen sich diese Ländergruppen jedoch aufeinander zu, weil in den Staaten, in denen die Privatisierung bereits sehr weit gegangen ist, diese kaum noch Fortschritte macht. Eine solchermaßen konvergente Privatisierung zeichnet beispielsweise das Teilprojekt von Zimmermann (C6) bei der Rechnungslegung nach. Staaten mit einer ursprünglich unterschiedlich stark privatisierten bzw. verstaatlichten Regulierung der Rechnungslegung – Großbritannien, die USA und Deutschland – unterliegen heute zunehmend einer einheitlich privat regulierten Rechnungslegung. Die Regulierungsstandards werden heute in allen drei Staaten von privaten Standardsetzern festgelegt.

Auf der Achse öffentlich-privat beobachten zudem einige Teilprojekte eine konvergente Doppelbewegung von Privatisierung und Verstaatlichung. So wird in dem Teilprojekt von Leibfried und Obinger (C1) beobachtet, dass sich ehemals unterschiedliche Wohlfahrtsstaaten – sozialdemokratische, konservative und liberale – einander leicht angleichen. In den liberalen Wohlfahrtsstaaten finden Verstaatlichungsprozesse statt, die sie den sozialdemokratischen und den konservativen Wohlfahrtsstaaten annähern, während die sozialdemokratischen und konservativen Wohlfahrtsstaaten Privatisierungsprozesse durchlaufen, so dass sie sich den liberalen Wohlfahrtsregimen angleichen. Eine ähnliche Konvergenz stellt das Teilprojekt von Rothgang u.a. (C3) bei den Gesundheitssystemen fest. In den Staaten, in denen die Gesundheitsversorgung weitgehend staatlich organisiert war, finden Privatisierungsprozesse statt, die sich insbesondere in der Einführung von Markt- und Wettbewerbsmechanismen äußern, während in den Staaten, in denen es vornehmlich private Gesundheitssysteme gab, Verstaatlichungsprozesse in Form zunehmender öffentlicher Beteiligung an Finanzierung und Leistungserbringung von Gesundheitsleistungen auszumachen sind. Im Teilprojekt von Zürn und Mayer (B4) konnte diese Art der Korridorverengung auch für die Datenschutzregulierung festgestellt werden. Immer stärker akzentuierte private Steuerungsformen in der EU und eine zunehmend staatlich gestützte Steuerung in den USA konvergieren auf das Muster einer staatlich regulierten Selbstregulierung.

Zusammenfassend könnte man etwas überspitzt formulieren: Während sich die kontinentaleuropäischen Staaten auf der Achse privat-öffentlich den angelsächsischen Staaten annähern und diese zugleich jenen etwas entgegenkommen, haben sich auf der Achse national-international die Unterschiede zwischen den kontinentaleuropäischen und den angelsächsischen Staaten, insbesondere den USA, weiter ausgeprägt, weil sich die kontinentaleuropäischen Staaten schneller internationalisiert haben als die angelsächsischen.

Zerfaserungsthese
Die Ergebnisse der ersten Antragsphase zeigen, dass der DRIS zwar erhalten bleibt, aber zerfasert. Das ist weniger paradox als es zunächst klingen mag. Der DRIS bleibt in dem Sinne erhalten, dass er weiterhin die zentrale Instanz für die Erbringung von normativen Gütern darstellt. Er behält, wie im Folgenden dargestellt wird, in allen vier Dimensionen von Staatlichkeit – Rechtssicherheit, Legitimation, Wohlfahrt und Intervention, und Ressourcen – die Letztverantwortung und reserviert sich auch wichtige Entscheidungs- und Organisationsverantwortung. Die Alleinverantwortung des DRIS für die Erbringung dieser Güter geht aber verloren: Die Entscheidungs- und Organisationsverantwortung liegt nicht mehr bei staatlichen Agenturen allein, sondern bei einem Geflecht staatlicher und nicht-staatlicher Organisationen. Die für den DRIS des goldenen Zeitalters typische Bündelung von Verantwortung löst sich auf und in diesem Sinne kommt es zu einer Zerfaserung des DRIS.

Der DRIS bleibt zentral
Trotz der beschriebenen Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse bleibt der DRIS erhalten. Die meisten Teilprojekte zeigen, dass das Kerngeschäft der Erbringung normativer Güter auch in den 1990er und 2000er Jahren beim DRIS verbleibt. Sein Anspruch, oberster Rechtsgarant, wichtigster Legitimationsanker, zentrale Wohlfahrtsinstanz sowie Gewalt- und Steuermonopolist zu sein, wird durch den Bedeutungszuwachs privater oder internationaler Strukturen zur Erbringung normativer Güter kaum beeinträchtigt. Die Letztverantwortung bleibt in allen vier Dimensionen von Staatlichkeit fast vollständig beim DRIS. Nicht-staatliche Institutionen – private wie internationale – übernehmen zwar Mitverantwortung für normative Güter. Werden sie dieser Mitverantwortung nicht gerecht, so ist es aber weiterhin der Staat, der dafür einstehen muss. Was auch immer bei der Erbringung normativer Güter schief läuft, der Staat muss es am Ende verantworten.

Der Staat behält aber nicht nur die Letztverantwortung, sondern auch wichtige Entscheidungs- und Organisationskompetenzen. Zumindest ist er an Entscheidungen über die operative Organisation der Erbringung normativer Güter und an der operativen Seite selbst zumeist zentral beteiligt. Dies gilt zumal er mit den nicht-staatlichen Strukturen der Erbringung normativer Güter häufig eng verbunden ist. Viele dieser privaten und/oder internationalen Strukturen wurden vom Staat geschaffen, um angesichts veränderter Rahmenbedingungen seiner Verantwortung besser gerecht werden zu können. Beispiele sind die internationale Fernmeldeunion, also die ITU, oder die private Arbeitsvermittlung. Andere parallele Strukturen sind zwar ohne ihn entstanden, konkurrieren aber auch nicht mit ihm um spezifische Verantwortungsfelder, so das transnationale Handelsrecht. Und wieder andere Strukturen sind entstanden, weil der Staat angesichts der damit verbundenen Verantwortung dies zumindest geduldet hat, so die Rahmenvorgaben der WTO für staatliche Sozialregulierung. Ausdrücklich gegen den Staat hat keine der von uns beobachteten nicht-staatlichen Strukturen Verantwortung für die Erbringung normativer Güter an sich gezogen. Zum DRIS gibt es bisher keine Alternative. Das Schicksal der prä-staatlichen Feudalstrukturen, die im Zuge der Staatsbildung vollkommen marginalisiert und auf einen symbolischen Rest reduziert wurden, ist dem Staat bisher erspart worden.

Mit Blick auf die Rechtsdimension findet keines der Rechtsprojekte Belege dafür, dass der nationale Rechtsstaat durch Internationalisierung und Privatisierung in seinen Grundfesten erschüttert worden wäre. Allenfalls das Europarecht mag die Grundlagen nationaler Rechtsordnungen in Europa herausfordern. Selbst hier bestehen die höchsten nationalen Gerichte darauf, dass die Letztverantwortung beim nationalen Mitgliedstaat verbleibt – jedenfalls "solange" keine umfassend gleiche Schutzwirkung supranational sicher gestellt ist. Doch jenseits des Europarechts sind in der Rechtsdimension die Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse mit der national-staatlichen Letztverantwortung für das Recht voll kompatibel. Der Nationalstaat gibt zwar Entscheidungsverantwortung an internationale und auch transnationale Institutionen jenseits des Staates ab, behält aber zumeist die Organisationsverantwortung weitgehend bei sich. So formt, wie das Teilprojekt von Winter (A3) betont, die Internationalisierung und ansatzweise Privatisierung der Rechtsetzung den nationalen Rechtsstaat zwar um, die Rolle des Staates als wichtigster Rechtsgarant ist aber nicht ernsthaft gefährdet.

Darüber hinaus kommen die Legitimations-Teilprojekte zu dem Schluss, dass trotz Internationalisierung und Privatisierung der Staat der zentrale Legitimationsanker für politische Herrschaft bleibt, also Letztverantwortung für Legitimation behält. Insbesondere macht das Teilprojekt von Nullmeier und Lhotta (B1) deutlich, dass der Staat bis heute in keine Legitimationskrise geraten ist: Es gibt keine Anzeichen für einen generellen Rückgang der Legitimität des DRIS. Zwar haben in unterschiedlichen Staaten jeweils einzelne Institutionen an Legitimation eingebüßt. Doch sowohl die politischen Systeme als Ganze als auch ihre Kern- und Ankerinstitutionen – etwa die Verfassung in den USA oder die direkte Demokratie in der Schweiz – verfügen über hohe und stabile Legitimität. Es zeigt sich auch keine allgemeine Verschiebung zu nicht-demokratischen Legitimationskriterien. Zwar ist das Spektrum der verwendeten Legitimationskriterien beträchtlich – sowohl demokratische als auch nicht-demokratische, sowohl input- als auch output-orientierte Legitimationsfiguren finden Verwendung –, doch demokratische Legitimationskriterien spielen nach wie vor eine zentrale Rolle bei der Legitimation der untersuchten Staaten.

Die Wohlfahrts-Teilprojekte zeigen für die Interventionsdimension, dass der Staat trotz Privatisierung und Internationalisierung an seinen zentralen wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben festhält. Zwar erbringt er bestimmte Aufgaben insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge oder der Gesundheitsdienste nicht mehr durch eigene Agenturen, sondern bedient sich privater Institutionen. Die Organisationsverantwortung gibt er somit zwar ab, hält aber an der Entscheidungsverantwortung für die Gewährleistung eines angemessenen Versorgungsniveaus fest. Ähnliches lässt sich im Bereich der sozialen Sicherung beobachten, wo ein relativer Rückgang öffentlicher Finanzierung zugunsten privater Versicherungslösungen mit einer stärkeren Regulierung der privaten Versicherung einhergeht. Hinzu kommt, dass der Staat andere, ehemals privater Verantwortung überlassene Wohlfahrtsbereiche an sich gezogen hat, etwa im Bereich der sozialen Dienstleistungen und der Familienförderung. Von einem allgemeinen Rückzug des Staates aus der Verantwortung für die soziale Wohlfahrt kann deshalb keine Rede sein. Bezeichnenderweise sind auch die Wohlfahrtsausgaben seit den 1970er Jahren angestiegen und nicht gefallen.

Auch in der Ressourcendimension gibt es keine Anzeichen, dass der Staat bereit wäre, auf sein Gewalt- und Steuermonopol zu verzichten. Die entsprechenden Teilprojekte belegen, dass Polizei und Militär nationale Institutionen bleiben, über deren Einsatz sich der Staat trotz Internationalisierung und sich andeutender Privatisierung die letzte Entscheidung vorbehält. Wie die Ergebnisse des Teilprojekts von Senghaas, Schneckener und Mayer (D3) zeigen, müssen zwar gerade Entscheidungen über Militäreinsätze vermehrt in internationalen Institutionen abgestützt werden. Insofern hat der Staat Entscheidungsverantwortung partiell abgetreten, aber die Organisationsverantwortung und vor allem die Letztverantwortung bleiben bei ihm. Und auch die Steuererhebung bleibt in der Verantwortung des Staates. Das Teilprojekt Genschel (D1) erinnert daran, dass es bisher keine internationale Institution mit eigener Steuerhoheit gibt und auch keine privaten Institutionen, die aufgrund eigener Autorität kollektiv verbindlich Abgaben erheben könnten. Selbst die EU verfügt nicht über eine eigene Europasteuer.

Die Kontinuität der Gestalt des DRIS könnte zu dem Schluss verleiten, Staatlichkeit habe sich kaum geändert. Dieser Schluss wäre aber voreilig. Dass der Staat immer noch ein demokratischer Rechts- und Interventionsstaat – ein DRIS – ist, bedeutet nicht, dass Staatlichkeit immer noch so organisiert ist wie im Goldenen Zeitalter des DRIS. Auch dass er im Geflecht paralleler Strukturen der Verantwortung viele Fäden in der Hand behält – mithin ein zentraler Knotenpunkt dieses Geflechts ist –, bedeutet nicht, dass sich Staatlichkeit nicht grundlegend verändert hat. Der Staat ist zwar Knotenpunkt dieses Geflechts paralleler Strukturen, aber er kann dieses Geflecht nicht kontrollieren.

Der DRIS zerfasert
Diese Entwicklung ist insofern als Zerfaserung des DRIS zu beschreiben, als damit die Verantwortung der Erbringung normativer Güter nicht mehr in einer Organisation – dem DRIS – gebündelt ist. Dies gilt zumal die beschriebenen Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse nicht in ein neues Verantwortungszentrum führen, sondern zu einer Verantwortungsdiffusion. Schließlich verlaufen die Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse in den vier Dimensionen von Staatlichkeit nicht gleichgerichtet auf eine neue internationale oder gesellschaftliche Institution zu, sondern zeigen in den vier Dimensionen von Staatlichkeit in verschiedene Richtungen. Grob kann man sagen, dass sich in der Rechtsdimension deutliche Internationalisierungsprozesse beobachten lassen, die von durchaus bemerkenswerten Privatisierungsprozessen begleitet sind. In der Legitimationsdimension dagegen sind bislang allenfalls schwache Internationalisierungsprozesse zu beobachten, eine Privatisierung findet allenfalls ansatzweise statt. In der Wohlfahrtsdimension bleiben Internationalisierungsprozesse schwach, und auch die erwartete Privatisierung hat sich zumindest in den Kernbereichen des Wohlfahrtsstaates nicht so deutlich wie erwartet gezeigt. Hingegen in der Ressourcendimension, wo kaum Privatisierungs- und Internationalisierungsprozesse erwartet wurden, zeigte sich eine zwar nicht sehr weit reichende, trotzdem aber doch bemerkenswerte Internationalisierung. Damit hat sich durch die je unterschiedlichen Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse die gebündelte Verantwortung aufgelöst, die für den DRIS kennzeichnend war, ohne dass es andernorts zu einer vergleichbar starken Bündelung von Verantwortung gekommen wäre. Verantwortung für die Erbringung normativer Güter wird oftmals von sehr verschiedenen staatlichen wie nicht-staatlichen Strukturen getragen – sie zerfasert.

Der beobachtete Wandel von Staatlichkeit kann auch insofern als Zerfaserungsprozess beschrieben werden, als die drei im DRIS gebündelten Verantwortungstypen – Letztverantwortung, Entscheidungs- und Organisationsverantwortung – nicht mehr in einer Organisation, "beim Staat", gebündelt sind. Denn die beobachteten Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse treffen die drei angesprochenen Verantwortungstypen unterschiedlich. In keiner Dimension von Staatlichkeit werden Letztverantwortung, Entscheidungsverantwortung und Organisationsverantwortung en bloc verschoben, so dass sich ein neues Verantwortungszentrum jenseits des Staates bilden könnte. Auch ist nirgends zu beobachten, dass der Staat seine Letztverantwortung für die Erbringung normativer Güter einbüßt. Selbst internationale Institutionen wie die EU oder private Institutionen wie ICANN, die weitgehende Entscheidungs- und auch Organisationsverantwortung besitzen, haben keine Letztverantwortung. Die bleibt unbestritten beim Staat.

Selbst die Entscheidungs- und die Organisationsverantwortung gibt der Staat selten zusammen ab, sondern in der Regel nur entweder das eine oder das andere. Eines der wenigen Beispiele einer Institution, an die der Staat Entscheidungs- und Organisationsverantwortung übertragen hat, ist die Europäische Zentralbank. Sonst überträgt der Staat Entscheidungsverantwortung eher an internationale Institutionen (oder verliert sie an diese), wohingegen er operative Organisationsverantwortung eher an private oder gesellschaftliche Institutionen delegiert (oder verliert). Das heißt, gegenüber internationalen Institutionen behält er oft die Organisationsverantwortung und bei privaten Institutionen behauptet er weiter seine Entscheidungsverantwortung. Beispielsweise haben internationale Institutionen wie die WTO wichtige Entscheidungsverantwortung erhalten, doch ihre Organisationsverantwortung ist nach wie vor begrenzt. Dagegen besitzen gesellschaftliche Institutionen wie die privaten Gesundheitsdiensleister heute zwar teilweise erhebliche operative Organisationsverantwortung, doch sie tun dies in einem durch die Entscheidungsverantwortung des Staates eng definierten Rahmen.

Insgesamt kommt es also zu einer Zerfaserung, bei der der DRIS die Letztverantwortung über alle Dimensionen von Staatlichkeit hinweg behält, sich aber in den verschiedenen Dimensionen in unterschiedlicher Weise Entscheidungsverantwortung mit internationalen Institutionen und Organisationsverantwortung mit privaten Institutionen teilt. Dieser Zerfaserungsprozess soll in einem Syntheseband, den vor allem Philipp Genschel, Markus Jachtenfuchs und Bernhard Zangl gemeinsam auf Grundlage der Ergebnisse des Sfb verfassen werden, weiter herausgearbeitet werden. Dabei ist dann auch zu klären, inwiefern es für den DRIS prekär ist, dass die Verantwortung für die Erbringung normativer Güter nicht mehr so einfach zuzurechnen ist. Während im Goldenen Zeitalter die Verantwortung praktisch immer beim DRIS und den von ihm kontrollierten Institutionen lag, verteilen sich Letzt-, Entscheidungs- und Organisationsverantwortung heute auf unterschiedliche Institutionen. Diese Streuung von Verantwortung stellt jedenfalls nicht nur für sich genommen einen grundlegenden Wandel von Staatlichkeit – eben eine Zerfaserung – dar, sondern könnte auch letztendlich in einer den Staat eigendynamisch schwächenden Entwicklung münden.

Fazit: eine neue Konstellation von Staatlichkeit
Der seit den 1970er Jahren zu beobachtende Wandel hat in einer sich andeutenden postnationalen Konstellation (Habermas 1998) zu einer Re-Konfiguration von Staatlichkeit geführt. Für den DRIS des Goldenen Zeitalters war eine fast unbeschränkte Verantwortungsvermutung für die Erbringung normativer Güter in allen vier Dimensionen von Staatlichkeit kennzeichnend. Wenn es um Rechtssicherheit und Legitimation, um Wohlfahrtssicherung, Gewaltregulierung und kollektive Ressourcenmobilisierung ging, dann stand der Staat in der Verantwortung – und zwar in der Letzt- und Alleinverantwortung. Dies ist heute längst nicht mehr so eindeutig. Verantwortung für die Erbringung normativer Güter wird seit den 1980er Jahren vermehrt auch von den DRIS teilweise ergänzenden und teilweise auch ersetzenden – künftig möglicherweise sogar verdrängenden – nicht-staatlichen Strukturen übernommen. Diese gesellschaftlichen und internationalen Strukturen treten ebenfalls als Rechtsgaranten, Wohlfahrtsgaranten, Legitimationsträger und Gewaltkontrolleure auf. Allerdings behält der DRIS gegenüber diesen zumeist von ihm selbst geschaffenen, zumindest aber von ihm geduldeten Strukturen nicht nur die Letztverantwortung für die Erbringung normativer Güter, sondern auch wichtige Entscheidungs- und Organisationsverantwortung. Er hat sich weder zu einem kraft- und funktionslosen Residualstaat zurückgebildet (Cerny 1995, 1997; Koch 1995) noch ist er in einem Weltstaat aufgegangen (Höffe 1999; Wendt 2003a, b). Der DRIS zerfasert zwar, bleibt aber ein zentraler Knotenpunkt, der im zunehmend komplexen Geflecht von Verantwortlichkeiten die zentralen Fäden zusammenhält.

Die für die nationale Konstellation charakteristische Verantwortungskonzentration beim DRIS ist aber geschwächt worden. Der Staat der postnationalen Konstellation ist in einem territorial und funktional vielfältig differenzierten Geflecht nichtstaatlicher Strukturen eingebunden und aufgehoben (Beck & Grande 2004; Eppler 2005; Delbrück 2006a, b). Mit dem Verlust der Verantwortungskonzentration im DRIS verliert sich die Übersichtlichkeit der nationalen Konstellation. Der DRIS des Goldenen Zeitalters hatte eine Leitidee, die nationale Selbstbestimmung, und ein Leitprinzip, die Hierarchie. Dem neuen Geflecht von Staatlichkeit fehlt beides. Es gibt keine Teleologie, die einen logischen Endpunkt markieren würde, auf den der Verflechtungsprozess zuläuft oder zulaufen soll. Internationalisierung und Privatisierung vollziehen sich als relativ ungeordnete Prozesse, deren Verlaufsmuster über verschiedene Staaten und Dimensionen von Staatlichkeit hinweg variieren. Staatlichkeit zerfasert. Das heißt nicht, dass der Staat am Ende ist, aber die Organisation von Staatlichkeit wird komplexer und womöglich auch prekärer als im goldenen Zeitalter des DRIS. Das Leitthema der zweiten Antragsphase ist es nun zu erklären, wie es dazu kam.

Weiterlesen: Die Erklärung des Wandels von Staatlichkeit

 
   
    TopTop